Reminiszenz an „Goldene Zeiten“

Am 8. Februar 2023 wurde die Neue Kirche 375 Jahre alt. Aus diesem Anlass führte KiE ein Gespräch mit Pastorin Etta Züchner und Pastor Christian Züchner. Es geht um die Kirche, aber auch um kleine Details, die viel aussagen.

Kultur-in-Emden:
Als die Neue Kirche 1648 eröffnet wurde, hielt Pastor Petrus Daniel Eilshemius eine Predigt, die 84 Textseiten umfasste, 354 biblische Zitate enthielt und auf Niederländisch gehalten wurde. Wie lang war ihre längste Predigt?

Etta Züchner: Ich formuliere meine Predigten aus und komme heute auf sechs Din A5-Seiten. Das sind dann etwa 15 Minuten Predigt. In der Corona-Zeit habe ich noch kürzere Predigten gehalten. Als junge Pastorin waren es immer acht bis neun Seiten – etwa 20 bis 25 Minuten Predigt. Aber die Zeiten haben sich eben geändert, es braucht heute mehr Abwechslung. Das lange Zuhören fällt schwer. Für mich heißt das: zwei Lesungen, mehr schöne Lieder. Das ist heute wichtiger.

In ihrem Garten nahe der Neuen Kirche: Christian und Etta Züchner. Bild: privat

Christian Züchner: Heute denke ich so manches Mal: Was hast du den Gottesdienstbesuchern damals bloß zugemutet. Meine Predigten waren sehr dogmatisch und theologisch.

KiE: Aber 84 Seiten?! Das wären nach Ihrer Rechnung 3,5 Stunden Predigt. Im Februar? In einer nicht geheizten Kirche? Wie haben die Leute das ausgehalten?

Christian Züchner: Es ist ja bekannt, dass zu jenen Zeiten lange gepredigt wurde. Aber ich bezweifle, dass die gedruckte Predigt, die überliefert ist, tatsächlich in dieser Form so gehalten wurde. Ich denke, es handelt sich hier um eine Fassung, die Eilshemius noch einmal überarbeitet hat, ehe sie zum Druck freigegeben wurde.

KiE: 300 Jahre später sind es Hermann Immer, Gerhard Brunzema und Jan Remmers Weerda, die die Säkularfeier mit Gedenken, Gottesdienst und Gemeindeabend den Jahrestag der Neuen Kirche würdigten. Das war 1948, und die Kirche ist noch Ruine. Doch der Wiederaufbau ist beschlossen. Warum entscheidet sich der Kirchenrat damals dafür, die Neue Kirche wieder aufzubauen und nicht die Moederkerk, die Große Kirche?

Etta Züchner: Man kann das nicht mit Sicherheit sagen, aber ich kann mir vorstellen, dass es praktikabler war, das Gebäude der Neuen Kirche wieder aufzubauen. Sie war architektonisch klarer in den Formen und baulich übersichtlicher. Zudem baute man die Neue Kirche als erste Kirche Deutschlands aus reformiertem Verständnis heraus. Die Große Kirche war zwar historisch wichtig, aber sie gründete in vorreformatorischen Zeiten.

Der Wiederaufbau der Kirche schreitet voran, die gewohnten Konturen sind wieder erkennbar. Bild. Sammlung Hans Barghoorn

Christian Züchner: Zudem gab es ja den Beschluss, die Schweizer Kirche als Notkirche auf dem Westwerk der Großen Kirche zu errichten. Den Gedanken, diese riesige Kirche wieder aufzubauen, hat in der Nachkriegszeit niemand ernsthaft gehabt. Das waren spätere Entwicklungen.

KiE: Die Neue Kirche steht auf einer Wäschebleiche, die ursprünglich den Cirksena gehörte. Der Turm wird von einer Kaiserkrone bekrönt. Auch das Engelke über dem nordwestlichen Portal trägt eine Kaiserkrone. Ist die Neue Kirche letztlich ein „hoheitliches“ Haus?

Christian Züchner: Nein, ganz im Gegenteil. Die Krone ist eine Reminiszenz an die Goldenen Zeiten der Stadt und ihres Selbstbewusstseins. Das sehe ich jedenfalls so. Die reformierten Bürger hatten 1595 den lutherischen Landesherrn der Stadt verwiesen und träumten immer noch den Traum, die einstige Reichsunmittelbarkeit wiederzuerlangen. Kurz: Die Krone auf dem Dach war wohl gedacht als ein beständiger Stachel im Fleisch des Grafen.

KiE: Auf der einen Seite eine Krone – auf der anderen eine Jahreszahl, die wohl einer der Maurer in der Wand der Kirche hinterlassen hat. Sie, Herr Züchner, haben dieser Zahl in ihrem jüngsten Jahreskalender die Februar-Seite gewidmet. Was bedeutet Ihnen „1646“

1646 hat einer der Handwerker am Bau der Neuen Kirche diese Jahreszahl in den Stein gekratzt

Christian Züchner: Mit der Zahl selber verbinde ich natürlich die Erinnerung an den Aufbau der Kirche und frage mich, wie die Arbeitsbedingungen damals gewesen sein mögen – ohne Kräne und sonstige Hilfsmittel, ohne Computer für die Berechnungen von Traglasten und Statik, dafür solide Handwerksarbeit. 1643 wurde der eicherne Schwellenrost als Basis für den Aufbau gelegt – diese Form der Gründung hat das Gebäude bis heute sicher gehalten – 1646 zog man die Außenmauern hoch, 1647 war der Bau dicht. Wenn man das mit heute vergleicht, muss man sagen: Die Handwerker des 17. Jahrhunderts haben gut rangeklotzt.

Das Siegel der reformierten Gemeinde Emden. Es findet sich auch über dem linken Eingang der Neuen Kirche

KiE: Und die Schöpfer der Kirche haben einige symbolische Hinweise eingebaut. So zeigt sie über den Eingängen zwei bemerkenswerte bildliche Darstellungen: das Emder Stadtwappen mit einem äußerst freizügigen, aber ebenfalls gekrönten Engelke und einen von Wasser umflossenen Turm.

Etta Züchner: Der Turm war und ist bis heute das Emder Gemeindesiegel – mit dem Umspruch „Christus is de eenige Steen, darup syn Gemeene rust alleen“ …

Christian Züchner: … …und über dem anderen Eingang das „Engelke“. Irritiert und amüsiert war ich, als eine Kollegin jüngst in einem Buch das Engelke als „Heringsgöre“ betitelt hat. Ich konnte nicht anders – ich habe ihr einen Brief geschrieben – aus Sicht des Engelke.
„Ich bin keine Heringsgöre,
ich bin eine Harpyie.
Stell Dich gut mit mir.
Ich mache Sturm und Wind.
Dafür stehen meine Flügel.
Seit über 500 Jahren wache ich über meine Stadt.
Nicht nur hier an der Neuen Kirche.
An vielen Orten, auf vielen Dingen.
Und über mir die Kaiserkrone.
Ein Zeichen von Selbstbewusstsein,
Kraft und Stärke.“

KiE: Es gibt ein weiteres irritierendes Schild, nämlich die Erinnerungstafel an die Eröffnungsfeier 1950. Sie enthält einen Fehler. Der Tag der Zerstörung wird mit dem 4. September statt mit dem 6. September 1944 angegeben. Können Sie sich erklären, wie das zustande gekommen ist?

Etta Züchner: Zu dem Fehler kann ich nichts sagen. Aber die Tafel war verschwunden. Sie wurde vor kurzem wiedergefunden – im Rentamt, beim Aufräumen. Dabei sind auch noch Lampen entdeckt worden, die ursprünglich wohl im Außenbereich der Neuen Kirche angebracht waren.

KiE: Was machen Síe damit?

Etta Züchner: Darüber müssen wir noch beraten.

KiE: In der NK waren – außerhalb der Pastorenschaft – eine ganze Reihe bemerkenswerter Menschen tätig wie Kantor Rolf Haldensleben. Die markanteste Figur aber dürfte Küster Albert Gerdes gewesen sein, von dem gesagt wird, er haben wie ein absolutistischer Herrscher über seine Kirche – und die Pastoren geherrscht. Sein Bild hängt im Konsistorium, aber ist die Erinnerung an ihn in der Gemeinde noch lebendig?

Etta Züchner: Weniger an den Küster – da sind die Generationen drüber hinweggegangen – als an den Kantor. Rolf Haldensleben hatte einen sehr guten Chor aufgebaut, und er hat das Quempas-Singen eingeführt. Darüber wird immer noch gesprochen und sich an ihn erinnert, zumal er auf unserem Friedhof bestattet wurde.

KiE: Frau Züchner, Sie zählen Pastoren zu ihren Vorfahren, die an der NK tätig waren. War das ein Grund, sich für die Pfarrstelle zu bewerben und sich für die Neue Kirche zu entscheiden?

Etta Züchner: Ach ja, Sie meinen Christian Heinrich Olck und Georg Jacob Wiarda? Das hat mein Mann entdeckt, weil er Familienforschung betreibt. Ich habe das gar nicht gewusst. Nein, das war keine bewusste Entscheidung für Emden. Es gab seinerzeit wenige Pfarrstellen und sehr viele Pastoren. Ich hatte mein Studium deshalb schnell durchgezogen, um mir eine Chance auf eine der raren Pfarrstellen zu sichern. Beworben habe ich mich überall, wo gerade eine Pfarrstelle vakant war.

Christian Züchner: Wenn alle Stricke gerissen wären, hätten wir uns in der rheinischen Landeskirche, aus der ich komme, beworben. Das war als Notlösung gedacht.

KiE: Nach einer internen Feier und einem Festgottesdienst mit Kirchenpräsidentin Susanne Bei der Wieden steht nun noch eine Veranstaltung zum Gedenken an.

Christian Züchner: Ja, der gebürtige Emder Historiker Benjamin van der Linde hält am 20. August um 11.15 Uhr, also nach dem Gottesdienst, einen Vortrag über „Macht, Glanz und Kaufmannsgeist. Emden im 17. Jahrhundert“. Weil wir die Kirche im Frühjahr aus energetischen Gründen nicht heizen durften, hoffen wir nun auf viel Beteiligung, denn van der Linde ist Experte für diese Zeit und hat sich intensiv mit der Geschichte des 17. Jahrhunderts in der Region beschäftigt.

► Christian Züchner hat anlässlich des Jubiläums einen Bildband über die Neue Kirche herausgegeben: „Die Neue Kirche in Emden. Bilder aus der Geschichte“, Hardcover 28 Seiten, 17,99 Euro.

Einige Daten aus der Geschichte
1643 bis 1648 – errichtet auf einer ehemaligen gräflichen Bleiche an der Brückstraße
1641 – im Dachreiter werden die beiden Glocken aufgehängt
1648 – die Böttcher-Gilde stiftet einen Kronleuchter, der heute noch in der Kirche hängt
1813 – Einbau eines Kastengestühls
1818 – die Orgel von Meister Johann Wilhelm Timpe erklingt erstmals
6. Sept. 1944 – die Neue Kirche brennt bis auf die Grundmauern aus
17. Dez. 1950 – erster Gottesdienst in der wieder aufgebauten Kirche
1958 – die neue Orgel aus der Berliner Werkstatt Karl Schuke ist installiert
1998 – Gründung des Bauvereins Neue Kirche
2011 bis 2013 – Renovierung und Umbau der Kirche
6. Sept. 2013 – Wiedereröffnung