Die Geschichte zweier Emder Uhren
Emden / Neuharlingersiel. Wiard Loesing ist Sammler von besonderen Uhren. Seine spezielle Neigung gehört den Turmuhren. Aber auch andere, ungewöhnliche Stücke sind eine Leidenschaft. „Ich beschäftige mich schon lebenslang mit Uhren“, sagt er und streift die an den Wänden seines Hauses in Neuharlingersiel hängenden Stücke mit liebevollem Blick.
Begonnen hatte alles bei den Großeltern, die ebenfalls im Sielort lebten. Als Kind war Loesing, der heute selber in Sichtweise des Hauses seiner Vorfahren wohnt, oft bei ihnen. Jeweils ein Regulator hing in Küche und Stube. Sie entzückten den Jungen derart, dass die Zuneigung für Uhren ihren Anfang nahm. Als Student kaufte Loesing dann seine erste eigene Uhr – Grundlage für eine Sammlung, die nun langsam wieder aufgelöst wird – vor allem aus Platzgründen.
Natürlich verknüpfen sich auch viele Erinnerungen mit den Uhren. Zwei dieser Geschichten, die ganz eng mit Ostfriesland zu tun haben, sollen hier erzählt werden.
Die Turmuhr von Nesse
1987 ist Loesing, der zu jener Zeit in Münster lebt, auf den Spuren der Familie. Er sucht dabei unter anderem den Geburtsort der Großmutter auf. Nesse. Bei einer kleinen Wanderung zu Friedhof und Kirche trifft er auf Handwerker, die die Kirche mit einem neuen Dach versehen. Er fragt interessehalber nach der Turmuhr und bekommt die Antwort, dass man bei den Arbeiten nichts gefunden habe, was einer Uhr ähnele, dass aber in einer Ecke des Dachbodens ein eisernes Gestell liege, von dem man nicht wisse, was das sein solle.
Der gebürtige Emder schaut nach, entdeckt ein altes, schmiedeeisernes Uhrwerk, Steingewichte und eine Eisenstange, die früher zum Zeigerwerk am Dachreiter geführt hatte. Der Uhrenliebhaber ist entzückt. Als er beim Fortgehen auf ein Gemeinderatsmitglied trifft, streift das Gespräch auch die Uhr auf dem Dachboden. Und Loesing ist völlig irritiert, als der zufällige Passant unvermittelt fragt: „Wollen Sie die haben?“ Natürlich will er. Schon am nächsten Tag trifft sich der Gemeinderat zu einer Sitzung und bespricht auch die Causa Turmuhr – zugunsten von Loesing, der nun neuer Besitzer der alten Turmuhr ist.
Wiard Loesing ist aber nicht nur Liebhaber der Zeitmesser. Er verfügt zudem über eine eigene Werkstatt, um Uhren zu reparieren und zu restaurieren. Aber damit nicht genug. Er geht natürlich auch der Geschichte seines jeweiligen Gegenstandes nach – und das sehr gründlich.
Im Falle der Uhr aus Nesse, die nicht signiert und auch nicht datiert ist, kommt Loesing zu dem Schluss, dass es sich um eine sehr alte Uhr handeln muss, die in die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts gehört, womöglich aber auch noch älter ist. Ein Indiz für diese Einschätzung ist das Material. Uhren die aus Eisen geschmiedet sind, gehören zu den ältesten Turmuhren überhaupt, erläutert der Fachmann. Und: Sie wurden nicht von Uhrmachern hergestellt, sondern tatsächlich von Schmieden. Ihr Ursprung soll in Italien gelegen haben.
Dass die Uhr aus Nesse alt ist, werde auch daran deutlich, dass sie ursprünglich keine Zeiger aufwies. Statt dessen gab es einen Stundenglockenschlag. „Er hat sicherlich alle Bewohner und die Leute auf den nahen Feldern erreicht“, vermutet der Experte. Umbauten habe die Turmuhr nicht erlebt. „Sie ist eine uralte und später auch altmodische Uhr geblieben“, versichert Loesing. Heute ist diese Uhr im Turm des Rathauses am Delft installiert.
Die Präzisionspendeluhr von Perez Wolf Seckel
Auf diese bestimmte Uhr hatte der Sammler schon lange ein Auge geworfen. Sie hing in einem Auricher Uhrengeschäft und war ausgezeichnet als Meisterstück des Uhrmachermeisters Georg Kittel (1870 bis 1928), der sie 1900 gefertigt hatte. Loesing war fasziniert, handelte es sich doch um eine Präzisionspendeluhr – ein wichtiges Instrument, das aufgrund seiner Zuverlässigkeit etwa als Normgeber für Marinechronometer genutzt wurde.
Ein handgeschriebener Zettel im Uhrenkasten und aufgeschraubte Schilder wiesen auf eben jenen Georg Kittel als Schöpfer der Uhr hin. Doch zugleich war der Sammler war irritiert. Irgendetwas stimmte mit dieser Uhr nicht.
Als Loesing das Objekt nach Jahren endlich kaufen konnte, klärte sich das Unbehagen. Er entdeckte, dass die Uhr von der damals in Emden arbeitenden Uhrmacher-Firma Seckel & Co 1852 gefertigt worden war. Die Firma war zunächst ganz am Eingang der Straße Zwischen beiden Sielen (von der Neutorstraße aus) beheimatet, später in der Kleinen Faldernstraße 16, und genoss einen exzellenten Ruf. Der vermutliche Schöpfer der Uhr, der Chronometermacher Perez Wolf Seckel, ist 1856 als Bürger in Emden verzeichnet. Er verließ die Stadt zehn Jahre später und übernahm 1866 ein Geschäft in Altona. Allerdings führte er dieses Geschäft nur 13 Jahre lang. Für 1879 ist bereits ein neuer Uhrmacher eingetragen.
Natürlich versuchte der Uhren-Fachmann, Näheres über die Familie Seckel in Erfahrung zu bringen. Doch die Informationen flossen spärlich, da die Seckels bereits vor 1900 in Emden nicht mehr nachweisbar sind. Die Firmenbezeichnung Seckel & Co führt Loesing darauf zurück, dass zwei Zweige der Familie untereinander verheiratet waren.
Loesing nahm die Uhr auseinander und stellte zunächst fest, dass sie 50 Jahre älter war als von Kittel angegeben – eben 1852 statt 1900. Das englische Uhrwerk wurde von James Breese gefertigt. Solche Uhrwerke waren keine Unikate, sondern wurden zu jener Zeit „in Mengen hergestellt“, wie Loesing recherchierte. „Seckel wird sich die Einzelteile besorgt und die Uhr dann zusammengebaut haben“, vermutet Loesing. Seine Eigenleistung soll die Konstruktion der Hemmung gewesen sein. Das ist jene Baugruppe, die die Verbindung zwischen dem Räderwerk und dem Pendel herstellt.
Loesing überführte schließlich auch noch das mahagonifurnierte Gehäuse in den ursprünglichen Zustand, so dass sich die Uhr heute im Originalzustand präsentiert. „Sie ist ein ungehobener Schatz für Emden“, sagt Loesing. Warum „ungehoben“? Weil der Schatz nicht ausgestellt ist. Die Uhr sollte 2021/22 eigentlich das Prunkstück einer Uhren-Ausstellung sein, die im Ostfriesischen Landesmuseum geplant wurde. „As time goes by“ war der vorgesehene Titel, und noch immer kann man im Netz die Ankündigung für diese Sonderausstellung nachlesen, die nie stattgefunden hat. Darin erfährt man unter anderem, dass „für etwa 100 Jahre (1750 bis 1860) in Ostfriesland sehr repräsentative Uhren hergestellt wurden“.
Die Ausstellung wollte zeigen, „wie diese Uhren aussahen, wie sie gebaut wurden und was zum Niedergang der Produktion führte“. Und auch eine Bewertung der Bedeutung dieser Ausstellung findet sich in dem Text: „Präsentiert wird ein spannendes Kapitel ostfriesischer Handwerks- und europäischer Handelsgeschichte aus der Zeit der beginnenden Industrialisierung.“ Warum diese Schau, die Wand- und Standuhren sowie Schiffschronometer und – als älteste Uhr – eben jene 300 Kilogramm schwere, mit den originalen Sandsteingewichten versehene Turmuhr aus Nesse zeigen wollte, nicht zustande kam, darüber sinnt Wiard Loesing heute noch nach.
Er hat die beiden Uhren – schon in der Vorbereitung der Ausstellung – an die Gerhard ten Doornkaat Koolman-Stiftung verkauft, die sie wiederum in die Obhut des Ostfriesischen Landesmuseums gab. Dass die Präzisionspendeluhr von dem Emder Uhrenmacher Seckel sich dort im Magazin, nicht aber in der Dauerausstellung findet, soll damit zu tun haben, dass das Originalpendel einen Glasbehälter enthält, der zum Teil mit Quecksilber gefüllt ist. Quecksilber deshalb, weil sich damit Temperaturunterschiede kompensieren lassen, erklärt Loesing. Er hat inzwischen ein neues Pendel ohne das Schwermetall gebaut. Das teure Stück wurde nie abgeholt und lagert heute noch in seiner Uhrmacherwerkstatt in Neuharlingersiel. „Schade“, findet das Wiard Loesing.