Streiflichter der Aufklärung

Teil 2: William Derham: Astrotheologie, oder Himlisches Vergnügen in Gott […]. Übersetzung von Johann Albert Fabricius, Hamburg ²1732. (Signatur JaLB: 2004:6146)

Immanuel Kant, Philosoph der Aufklärung, Professor der Logik und Metaphysik in Königsberg, wurde vor 300 Jahren geboren und starb vor 220 Jahren. KiE würdigt den Wissenschaftler mit einer Serie, die ihn selbst, aber auch Zeitgenossen in den Blick nimmt und die Epoche anhand ihrer Theorien, Aussagen und Beiträge vorstellt.
Der Autor ist Wissenschaftshistoriker und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Johannes a Lasco Bibliothek, auf deren Buchbestände diese Serie unter anderem Bezug nimmt.

Von DR. MICHAEL WEICHENHAN

Emden. Nach der Reformation vollzogen sich in den eineinhalb Jahrhunderten, die zwischen dem Ende des Dreißigjährigen Krieges (1648) und dem Ausbruch der Revolution in Frankreich (1789) mit seinen weitreichenden Folgen für ganz Europa liegen, in dem christlich geprägten Europa wiederum tiefgehende Veränderungen.

Wurde 1703 zum Mitglied der Royal Society gewählt: der anglikanische Geistliche William Durham

Diese 141 Jahre, wenn man sie denn überhaupt als eine Einheit betrachten möchte, sind unterschiedlich charakterisiert und bezeichnet worden. Unter anderem könnte man sie das Zeitalter der Aufklärung nennen. Eine Zeit, in der sich in Mitteleuropa nach und nach ein Selbstbild des Menschen entwickelt, der in dieser und für diese Welt lebt, der das Sichtbare erforscht, die Interessen sich, d.h. dem Menschen, zuwendet, seinem Körper, seinen geistigen und seelischen Kräften, den Sitten und Regeln des Zusammenlebens, seiner vielfältigen Geschichte.

Was wir als „Aufklärung“ bezeichnen, war anfangs Angelegenheit einiger weniger Außenseiter, der freie Gebrauch der Vernunft unabhängig von Autoritäten wurde wegen absehbarer Unruhen, die er nach sich ziehen würde, nicht gerade gern gesehen. Aber mit der Zeit drangen neue Gedanken und der Wille, Veränderungen zielgerichtet herbeizuführen, auch in Königshöfe und die Residenzen weltlicher und geistlicher Fürsten vor, sie begannen in Institutionen wie Akademien, Lesezirkeln und Universitäten Fuß zu fassen. Und auch die Religion wurde allmählich diesseitig: Sie wird moralisch, und sie wird verbunden mit dem anderen großen Thema dieser Zeit: der Erkenntnis der Natur.

Titelblatt der Astrotheologie Derhams; Signatur JaLB: 2004:6146

Das Buch, das uns heute beschäftigen wird, ist insofern ein typisches Kind dieses Zeitalters. Zuerst 1714 in englischer Sprache erschienen, wurde es umgehend zum Verkaufserfolg: Bis zu seiner Übersetzung ins Deutsche im Jahre 1728 durch den Hamburger Gelehrten Johann Albert Fabricius (1668 bis 1736) erschien es in bereits fünf Auflagen. Auch die deutsche Übersetzung verkaufte sich gut, 1732 kam die zweite, 1765 die fünfte Auflage auf den Markt. Verfasst hatte es William Derham (1657 bis 1735), ein Naturforscher, der nach seiner Ausbildung in Oxford als anglikanischer Geistlicher amtierte; 1703 wurde ihm die Ehre zuteil, zum Mitglied der Royal Society gewählt zu werden, der angesehensten wissenschaftlichen Einrichtung des Königreiches.

Die „Astrotheologie“, also: Stern-Theologie, setzt sich zum Ziel, den Blick zum Sternenhimmel hinauf und schließlich zu Gott zu führen. Derham erklärt: „Wie ich gezeigt habe, dass die Werke Gottes offenbar und augenscheinlich beweisen, dass ein Gott ist, so geben sie eben so einen klaren Beweis von seinen göttlichen Vollkommenheiten, sonderlich von seiner unendlichen Macht, Weisheit und Gütigkeit, eben so, wie man einen Meister aus seinem Werk erkennen mag“ (S. 224).

Der dahinter stehende Gedanke ist klar: Alles, was existiert, hat eine Ursache, dass es existiert. Bei Lebewesen sind das die Eltern. Woher kommen aber Gebirge, Flüsse, Ozeane, die Planeten und die Sterne? Nahezu alle Gelehrten teilten die Überzeugung, dass die Welt geschaffen worden war. Die Tatsache also, dass es die Welt überhaupt gibt, ist deshalb ein Argument für die Existenz Gottes. So wie die Existenz eines Gemäldes darauf schließen lässt, dass es einen Künstler gab, der es gemalt hat, so lässt die Welt auf einen Urheber schließen. Und da die Welt nicht nur schön ist, sondern die Bewegungen der Gestirne auch mit größter Regelmäßigkeit und Verlässlichkeit ablaufen, anders als damals noch viele Uhren und andere von Menschen hergestellte Geräte, hatte ihr Konstrukteur ein geradezu perfektes Werk geschaffen.

Derhams Buch bot nun keineswegs nur erbauliche Gedanken, die sich unter dem gestirnten Himmel anstellen lassen, ohne sich um Astronomie zu kümmern. Vielmehr war sein Buch das eines Forschers, der ein breiteres Lesepublikum mit den Erkenntnissen der modernen Sternenkunde vertraut machte. Wir könnten sagen: er wollte es über den Kosmos, das in den zurückliegenden rund 50 Jahren sprunghaft angestiegene Wissen von ihm und damit die Stellung des Menschen im Universum aufklären.

Auf die Darstellung der mathematischen Fundamente der Astronomie verzichtete er zwar, hingegen war ihm wichtig, die Größenverhältnisse der Himmelskörper unseres Sonnensystems im Vergleich zur Erde mit Zahlenangaben genau zu erfassen. Er pries die großen Fortschritte, die die Astronomie seit dem Anfang des 17. Jahrhunderts gemacht hatte, indem die Anforderungen an das Maß der Übereinstimmung zwischen berechneten und beobachteten Positionen fortwährend erhöht wurden. Vor allem hob er die Bedeutung der Fernrohre hervor, mit denen der Blick in immer größere Tiefen des unermesslichen Weltalls vordrang.

Ein Jahr vor Veröffentlichung der Astrotheolgie hatte Derham eine Physikotheologie (Signatur JaLB: 2004:6673) publiziert; auch sie wurde von Fabricius übersetzt und erlebte zahlreiche Auflagen. Hier die Buchrücken beider Bände

Was lange Zeit ganz undenkbar erschienen war, stellte sich nun als in höchstem Maße wahrscheinlich heraus: Die Sterne waren in Wirklichkeit Sonnen, auch sie aller Wahrscheinlichkeit nach umgeben von Planeten. Auch wenn noch die Möglichkeit fehlte, die Entfernung zu wenigstens einiger dieser Sonnen zu bestimmen, so liegt auf der Hand, dass sie enorm groß sein musste. — Die erste Entfernungsmessung zu einem Stern gelang übrigens erst 1837/38 dem Astronomen Friedrich Wilhelm Bessel (1784 bis 1846) in der Königsberger Sternwarte: es handelt sich um den vergleichsweise kleinen Stern 61 Cygni, der sich in einer Entfernung von rund 107 Billionen Kilometern (107,84 • 1012 km) befindet; zum erdnächsten Stern, der ganz schwach leuchtenden Proxima Centauri, beträgt sie rund 40 Billionen Kilometer.

Was lehrte der Blick in den Kosmos nun die Leser des Buches? Zum einen, dass der Mensch keineswegs an einer bevorzugten Stelle im Weltraum existiert. Er blickt lediglich vom dritten Planeten eines Sonnensystems in einen Raum, in dem sich unabsehbar viele sichtbare und auf Grund ihrer Kleinheit unsichtbare Himmelskörper befinden, und zwar in Entfernungen, die alle seine geläufigen Vorstellungen übersteigen. Die bestürzende Vorstellung einer trostlosen Einsamkeit, des schrecklichen Verlorenseins in diesen Weiten liegt nahe, und wiederholt ist sie geäußert worden, auch von Derham.

Aber das Erschaudern fängt er ab: Erst jetzt, erst im Zeitalter der fernrohrgestützten Astronomie, könne der Mensch sich einen Begriff von der Größe der Schöpfung machen. „Denn hier haben wir die Werke der Schöpfung nicht eingesperrt in so enge Grenzen wie den Kreis oder das Gewölbe der Fix-Sterne, oder auch eines noch größeren Raums der obersten Bewegung, von welchen die Alten sich eingebildet, dass es der äußerste Umfang der Welt sei, sondern sie breiten sich in einen viel weitern und glaubwürdigeren Raum, dem man keine Grenze setzen kann“ (S. 38f.).

Der Mensch lernt durch wissenschaftliche Einsicht, sich als Stäubchen im All zu begreifen. Nicht für ihn ist all das geschaffen, was er da zu sehen bekommt, sondern er versteht es als Hinweis auf Gottes staunenswerte Allmacht. Von Gottes Allmacht hatte man schon immer gesprochen, Derham aber zeigt, wo man sie buchstäblich vor Augen gestellt bekommt: in der unermesslichen Größe des Kosmos. Astronomie lehrt Bescheidenheit. In der Bescheidenheit auf Grund besserer Einsichten liegt ein wichtiges Motiv aufklärerischen und aufgeklärten Denkens, das uns bei unseren „Streifzügen“ immer wieder begegnen wird.

Der Blick ins All lehrt aber auch etwas anderes: Der so kleine Mensch, der auf einem kleinen Planeten eine Sonne umrundet, ist mittels eines disziplinierten Geistes in der Lage, vieles von der Welt zu begreifen. Er muss nicht nur staunen, er nimmt das Staunen vielmehr zum Anlass, in das Unbekannte vorzudringen, um es zu erforschen. Und das gelingt! Der Kosmos, so riesig er auch ist, lässt sich vom menschlichen Geist begreifen. Unübersehbar ist Derhams Stolz auf die Leistungen der Astronomen der jüngeren Zeit, wenn er deren Entdeckungen und Theorien anführt, die das, was man in früheren Zeiten über den Kosmos wusste, in den Schatten stellen. Die „Astrotheologie“ versteht sich eben als eine allgemein verständliche Darstellung der Astronomie auf der Höhe ihrer Zeit.

Selbstverständlich folgt Derham, Mitglied der Royal Society, den Spuren des prominentesten Mitglieds dieser Gesellschaft, Isaac Newton (1643 bis 1727), der mindestens in England alles überstrahlenden Autorität auf dem Gebiet der mathematischen Naturphilosophie. Für die Verbreitung von dessen Theorien im deutschsprachigen Raum stellt die Übersetzung des Fabricius insofern einen nicht zu unterschätzenden Beitrag dar. Newton stand Anfang des 18. Jahrhunderts nicht nur für das geglückte Unternehmen, eine mathematische Erklärung natürlicher Prozesse auf der Basis weniger Grundbegriffe vorzulegen, er und seine Anhänger standen auch für eine enge Beziehung zwischen Naturforschung und Theologie. Newton hatte das in der zweiten Auflage am Ende seines epochalen Werkes „Mathematische Prinzipien der Naturphilosophie“ (1713) in folgende Sätze gefasst, die auch für Derhams „Astrotheologie“ leitend waren:

„Dieser höchst edle Bau, bestehend aus Sonne, Planeten und Kometen, konnte nur durch den weisen Ratschluss eines intelligenten und mächtigen Wesens entstehen. Und wenn Fixsterne die Zentren ähnlicher Systeme sind, dann sind sie, da in gleicher Weise aufgebaut, der Herrschaft dieses einen Wesens unterworfen. Es herrscht über alles, nicht wie eine Weltseele, sondern wie einer, der über alles gebietet, und eben auf Grund seiner Herrschaft wird Gott «Gebieter», «Allherrscher» genannt. Denn der Ausdruck «Gott» drückt eine Beziehung aus, nämlich zu denen, die ihm untertan sind. Gott ist das höchste Wesen, ewig, unendlich, absolut vollkommen.“

Das Studium der Natur führte also zur Wahrheit; die gesamte sichtbare Welt folgte wenigen Gesetzen, die der göttliche Schöpfer und Herrscher ihr eingeschrieben hatte und der Mensch tatsächlich erkennen konnte. Gott war kein Despot, der willkürlich herrschte, sondern das Wesen, das eine Welt geschaffen hatte, die für die menschliche Vernunft begreifbar ist.

Frontispiz von Bernhard Nieuwentijt, Het regt gebruik der werelt beschouwingen (Vom rechten Nutzen der Weltbetrachtung), Amsterdam 1724 (4. Auflage). Signatur JaLB: Theol. 4° 0536M

Eine solche Haltung setzt die Illustration eines zuerst 1715 in Amsterdam erschienenen Buches buchstäblich ins Bild: Die Naturwissenschaft, auf einem Sockel stehend, nimmt den Betrachtern die Binde von ihren Augen, auf dass sie sehen lernen: deren altes kleines Weltbild (unten links) zerfällt. Nicht allen gefällt das, die eine Figur reagiert geradezu bestürzt und voller Abwehr, die andere aber gibt sich dem neuen Anblick andächtig staunend hin. Sehen lernen sie mit Hilfe all der Instrumente, die nicht nur auf dem Boden verstreut liegen: Fernrohre, Spiegel, Barometer, Globen, Pendel usw. Die von Gott erleuchtete Naturwissenschaft weist auf die rechts sichtbare Figur: die Darstellung der „nackten Wahrheit“. So führt die Beobachtung der Natur zur Gotteserkenntnis.

► Die Zitate aus Derham sind der angegebenen deutschen Ausgabe entnommen, aber orthographisch normalisiert worden.