„Umwege sind ein Stück des Weges“

Der Liedermacher Jonathan Böttcher ist ein auch in Emden bekannter Gitarrist und Sänger. Ein Porträt.

Von Ina Wagner

Emden. Auch nach 44 Berufsjahren gibt es keine Routine. Diese Erfahrung machte Jonathan Böttcher, Liedermacher, und eine „Rampensau“, wie er selber von sich sagt, im letzten Jahr. Denn er konzertiert nun einmal leidenschaftlich gerne – vor Publikum, natürlich. Doch mit Corona ist ihm gleichsam der Beruf abhanden gekommen. Ein letztes reguläres Konzert gab er am 7. März 2020 in Esens. Seither erfolgten nur vereinzelte Auftritte unter den erforderlichen Vorsichtsmaßnahmen. Nach mehr als 4000 Live-Veranstaltungen wurde ihm buchstäblich die Luft aus den Segeln genommen.

Lässt sich so leicht nicht unterkriegen: Jonathan Böttcher Bild: privat


Was nun? Getreu seinem Grundsatz, sich nicht an Schwächen abzuarbeiten, sondern auf die Stärken zu setzen, stürzte er sich in ein Abenteuer, dessen Folgen er zu Beginn gar nicht abschätzen konnte. Denn wie viele andere Musiker nutzte Böttcher nun die Möglichkeiten des Internets – ohne die Hoffnung aufzugeben, bald wieder live vor seinem Publikum stehen zu können.

Doch auch das Digitale nutzt der leidenschaftliche Musiker in sehr individueller Weise – wie bisher auch sein Leben sehr individuell verlaufen ist.

Der Vater – streng und fordernd, „vom preußischen Schlag“ – stirbt. Die Mutter weist dem Jungen Verantwortung zu, schenkt ihm aber auch rückhaltloses Vertrauen. „Bei ihr habe ich gelernt, was mir später als Musiker zugute kam; Verantwortung für mich selber zu übernehmen“, sagt der heute 62-Jährige.

Mit 14 Jahren ist er auf dem Bau, bricht – intellektuell unterfordert – die Lehre ab, will Astrophysik studieren, wird Physiklaborant, hält eineinhalb Jahre durch, gerät in die Hippie-Szene, liest – statt Alexander Solschenizyn und Heinrich Böll – nun Hermann Hesse rauf und runter. Immer auf der Suche nach dem Sinn des Lebens.

Mit 18 fragt er sich, ob er Musiker oder Biobauer werden soll? Doch da die Musik zu diesem Zeitpunkt schon viele Jahre zu seiner Biographie dazu gehört, zieht er mit der Gitarre auf die Straße. Mal ist er in Braunschweig, dann in Hannover, dann wieder in Hamburg unterwegs. Er lebt bei Freunden, in Wohngemeinschaften. Als Musiker ist er Autodidakt, aber sein musikalisches Vorbild, der kanadische Rockmusiker Neil Young, gibt ihm ideellen Rückhalt.

Kurz darauf sieht man Jonathan Böttcher mit Freunden auf dem Weg nach Indien. Er ist noch bürgerlich genug, um sich zuvor impfen zu lassen, den Freunden ist das egal. Es kommt, wie es kommen muss. Die Weggefährten erkranken schwer, und der junge Mann steht vor der fast unlösbaren Aufgabe, zwei todkranke Menschen nach Deutschland zurückzubringen. Die humane Krise, in die Jonathan Böttcher gerät, wäre geeignet gewesen, auch einen Älteren aus der Bahn zu werfen. Doch da sind merkwürdige Begegnungen. „Ich traf unterwegs einen Mann, und ich glaube, das war ein Engel“, sagt der Liedermacher heute. Weitere Begegnungen mit Christen erscheinen als Momente der Zuversicht. Böttcher erlebt eine Art innerer Umkehr. Wird vom Saulus zum Paulus. Tritt aber, trotz des intensiven Gefühls christlicher Nähe, aus der Institution Kirche aus.

Er kommt mit seinen Freunden nach Bayern und auch hier trifft er auf Christen, die ihm uneigennützig weiterhelfen. Man lebt nun in einem Steinbruch, in einer Art Wohngemeinschaft mit unterschiedlicher Besetzung. Dann setzt sich einer der jungen Leute einen „Goldenen Schuss“. Böttcher flieht den Ort.

Er ist 21 Jahre alt. Ein Hauskreis, in den er gerät, will ihn „bürgerlich machen“. Böttcher verweigert sich, greift zur Bibel, schlägt sie blind auf und liest den ersten Text, auf den sein Blick fällt. „Jeder bleibe in dem Stand, zu dem er berufen ist.“ Das ist Auftrag, Weg und Ziel zugleich.

Böttcher bleibt Straßenmusiker, jetzt mit eigenen Texten. Er fühlt sich zur Mission berufen, gründet die Band „Jonathan und Laurent“, die zur erfolgreichsten christlichen Gruppierung ihrer Zeit wird. Die beiden spielen vorwiegend in Freikirchen und auf Kirchentagen. „Aber ich war durch den Erfolg zu einem arroganten Menschen geworden“, lautet das nüchterne Resümee beim Blick zurück. Böttcher lernt den christlichen Liedermacher und Pastoren Clemens Bittlinger kennen, liest theologische Literatur, beginnt, das Neue Testament auswendig zu lernen. Und er trifft eine Entscheidung: Er will künftig nicht bekehren, sondern Musik machen – spirituell, aber ohne missionarischen Impetus.

Mit 28 Jahren übt er täglich Bach. Welch ein Fanal für sein Selbstbewusstsein, als eine Freundin ihm ins Gesicht sagt: „Ich höre Dich täglich spielen, aber besser wird das nicht.“ Der von sich selbst überzeugte Autodidakt erkennt, dass er das Handwerk des Gitarristen von Grund auf lernen muss. Er lässt sich helfen, beim Spielen, aber auch beim Redigieren der Liedtexte, beim Entwickeln einer schlüssigen Moderation.

Mehr als 50 CD hat Jonathan Böttcher herausgebracht. Die letzte stammt von 2018 und heißt „Lass Frieden werden – Lieder, die bewegen“. Der erfolgreiche Verkauf der Tonträger hat ihm in Corona-Zeiten geholfen. „Ich habe viel Solidarität erfahren.“ Dennoch: Es war nicht genug, um durchzukommen. Also das Internet. Also etwas Neues.

Für seinen digitalen Gitarrenunterricht haben sich mittlerweile acht Schüler angemeldet. Ein Konzert, das per Zoom übertragen wurde, vereinte 72 Gäste, exklusive Konzerte auf Spendenbasis zeigen „unglaubliche Resonanz“. Da gibt es das Ehepaar, das sich ein Privatkonzert bestellt, ein Geburtstagskonzert ist mit fünf Personen bestückt. Jonathan Böttcher hat so viel Erfahrung, so viele Lieder und Texte, dass er nahezu unbeschränkt immer neue Programme anbieten kann – auch für Kinder. Wobei er da ganz bewusst auf musikpädagogischer Ebene arbeitet. „Schöpfungsorientiert“, wie er selber formuliert. Es geht ums Singen, um viel Bewegung, um Mitmach-Szenarien.

Ein anderer Bereich, den er durch den inzwischen verstorbenen Emder Schwiegervater eroberte, ist die musikalische Beschäftigung mit Senioren. Der Schwiegervater spielte autodidaktisch, aber mit sehr viel Intuition, Mundharmonika – meistens Volkslieder. „Ich vermisse das gemeinsame Spielen sehr“, sagt Jonathan Böttcher. Aber geblieben ist ihm die Erfahrung, genau hinzuhören und so zu erfahren, was ältere Menschen berührt, wenn sie Musik hören.

Der persönliche Bezug zum Publikum fehlt immer noch, das Live-Erlebnis, das Kribbeln vor dem Auftritt, der Applaus. Aber, wie Böttcher selber sagt – und das klingt zuversichtlich: „Umwege sind ein Stück des Weges!“