Geheimnisvolle Gänge unter Emden

Emden. Vor 30 Jahren, 1993, gab es in Emden eine erregte Diskussion um Gänge, die von der ehemaligen Franziskaner-Kirche, die hinter dem Rathaus lag, bis zur Klunderburg und dann bis zur Großen Kirche und eventuell auch noch weiter bis zur Grafenburg und zur Alten Münze führen sollten.

Gab es Gänge zwischen der Franziskanerkirche (rechts), der Großen Kirche, der Emder Burg oder auch der Alten Münze (links oben)?

Es meldeten sich Zeitzeugen, die schworen, sie seien in diesen Gängen gewesen. Tatsächlich konnten sie die unterirdischen Gegebenheiten auch lebhaft beschreiben. Die Erinnerungen gingen dabei 40 oder gar mehr als 60 Jahre zurück, ins Jahr 1953 und 1930.

Fritz Riesberg war einer dieser Menschen. Er gehörte 1953 zu einer Gruppe von fünf Jungen, die in der immer noch von Kriegsschäden gezeichneten Stadt nach Altmetall suchten. Auch die Rathausruine wurde auf mögliche Fundstücke hin untersucht. Dabei sei im Boden ein Loch freigelegt worden. Als die Jungen hineinkletterten, hätten sie sich in einem großen, ovalen Raum mit einem Durchmesser von 20 Metern an der breitesten Stelle befunden. Dieser Raum habe mehrere gemauerte Nischen aufgewiesen. Zudem seien zwei Eingänge sichtbar geworden. Der eine hätte, so ermittelten die Jungen damals – in Richtung Große Kirche oder Burgplatz gewiesen, der anderen in Richtung Neuer Markt.

Riesberg konnte sich 1993 trotz der großen Zeitspanne von 40 Jahren genau erinnern. „Die Luft war relativ frisch, der Boden fiel leicht ab, die Wände waren mit großformatigen Backsteinen bedeckt. Im Boden gab es in Abständen kleine Becken – etwa 50 mal 50 Zentimeter groß – wohl zum Auffangen von Feuchtigkeit.“

Es gab damals eine ganze Reihe von Emdern, die in einem Gang gewesen sein wollten, aber keine Erinnerung war so präzise wie die von Fritz Riesberg. Dann meldet sich noch eine weitere Zeitzeugin, die sehr detailliert berichten konnte – die damals 73-jährige Trinke Schlüter. Ihr Hinweis: „Wir waren damals zehn oder elf Jahre alt. Lehrer Folkerts, der uns an der Wallschule unterrichtete, meinte, wir sollten die Gänge unbedingt gesehen haben. Also zogen wir Kinder mit Kerzen in die Gasthauskirche. Gleich rechts vom Eingang in der Brückstraße ging es durch eine alte Holztür abwärts. Die Stufen waren aus Stein und stark abgewetzt. Der Handlauf hatte glänzende Beschläge, wohl aus Messing.“ Rund zehn Meter seien sie in einem Gang gewesen, als plötzlich ein Luftzug die Kerzen ausblies, und die Kinder – von Furcht gepackt – wieder ins Freie stürmten. „Man hat uns damals erzählt, dass der Gang bis zur Klunderburg geführt habe.“

Zeichnung der Großen Kirche von Architekt Visser aus dem Jahr 1861. Der Zutritt zum Gang ist nicht eingezeichnet worden

Die Zweifel waren 1993 groß. So machte der Bauunternehmer für den Wiederaufbau des Rathauses, Günther Heuermann, geltend, dass man den gesamten Keller der Ruine herausgenommen und dabei keinen Gang gefunden habe.

Es brauchte 20 Jahre, bis sich ein neuer Hinweis auftat. 2013 fand der wissenschaftliche Mitarbeiter der Johannes a Lasco Bibliothek, Dr. Klaas-Dieter Voß, in einer Handschrift von 1861 eine Notiz, die bis zu einem gewissen Maße für Klarheit sorgte. Damals wurden den Pastoren im Bereich des Königreiches Hannover vierseitige Fragebogen zugesandt. Diese sollten ausgefüllt werden, um eine Übersicht über alle Kirchen und Kapellen, kirchliche Besitztümer, Ausstattungsgegenstände, aber auch eventuelle Besonderheiten zu erhalten. Die Pastoren reagierten unterschiedlich. Manche erfüllten den Wunsch der Regierung geradezu akribisch, andere hielten sich nicht lange mit Nachforschungen auf und antworteten nur mit Ja oder Nein.

In Emden ging man anders vor. Es wurde ein Architekt mit der Aufgabe betraut, die umfassende Präsentation der Emder Kirchen vorzunehmen. J. E. Visser machte sich an die Arbeit. Für die Große Kirche notiert er unter dem Unterpunkt „Sind Kreuzgänge und Klostergebäude vorhanden?“ folgendes: „An dieser Stelle ist der unterirdische Gang zu erwähnen, welcher von der Großen Kirche sowohl zur alten Burg wie auch nach dem früheren Franziskanerkloster, jetzigem Gasthaus oder Gasthauskirche, führt. Ohne größere Vorrichtungen usw. ist wegen vorhandener schlechter Luft der Gang nicht zu durchschreiten. Wie derselbe auch unter dem Hafen am Delft eingestürzt zu sein scheint. Gründliche Forschungen möchten vielleicht noch manch Interessantes zutage fördern.“

„An dieser Stelle ist der unterirdische, gewölbte Gang zu erwähnen …“, notiert Visser 1861 handschriftlich in den „Beschreibungen der Kirchen und Kapellen im Königreich Hannover“

Der Hinweis ist deutlich, aber Visser unterlässt es, anzugeben, wo sich der Zugang zu diesem Gang befunden hat. Und auch eine weitere Recherche in der Kirchenbeschreibung von 1861 ist nicht möglich. Ausgerechnet die Unterlage zur Franziskanerkirche fehlt.

Fluchtgänge an sich sind nichts Ungewöhnliches in der Geschichte von Klöstern, Kirchen, Burgen oder Schlössern. In Emden ist es die Untertunnelung des Ratsdelftes – des ersten Emder Hafens -, die für Unglauben sorgt. Trotz der Aussage von Architekt Vissers gibt es bis heute keinen wirklichen Beleg. Allerdings soll beim Festmachen des Museums-Rettungskreuzers „Georg Breusing“, der 1988 nach Emden kam, einer der Pfähle für die Dalben durchgerauscht und im Untergrund verschwunden sein. Eine Ursache für den Vorfall hat man nie gefunden.