Vom Kinderstar zur Organistin

Brigitte Höhn hat in ihrem Musikerleben viel erlebt und viel gemacht

Von Ina Wagner

Hinte. Brigitte Reisberger war elf oder zwölf, als am Opernhaus in Kiel „Der Silberne Reiher“ von Ikuma Dan aufgeführt und dafür ein kleiner Jugendchor zusammengestellt werden sollte. Brigitte, Jahrgang 1949, hatte vorher Ballettunterricht am Opernhaus gehabt und war auch schon in den Weihnachtsmärchen aufgetreten. So war es keine Überraschung, dass sie zu den Mädchen im neuen Jugendchor gehörte, die auf der Bühne zum Gelingen der zeitgenössischen Oper beitrugen – natürlich japanisch eingekleidet und mit Perücke ausgestattet.

Das musische Fach war seit dem vierten Lebensjahr für Brigitte Höhn selbstverständlich. Da begann der Klavierunterricht, erteilt vom strengen Vater Wilhelm Reisberger. „Musik war für mich das normalste von der Welt“, lautet das Resümee von Brigitte Höhn in der Rückschau. Der Vater war Kapellmeister, Komponist und Obermusikmeister auf dem Schlachtschiff „Tirpitz“ gewesen. Die Mutter, Marianne Reisberger, galt als musikbegeisterte Frau. Regelmäßige Konzert- und Opernbesuche waren da obligatorisch. Und für Brigitte bewegte sich das Interesse – stets geleitet vom Vater – zwischen Klavierspiel, Gesang und Ballett. „Das war selbstverständlich.“

Kindlich impulsiv: Brigitte Höhn als Kinderstar in Laboe

Schon mit fünf Jahren war Brigitte Höhn das geworden, was man heute einen Kinderstar nennt. Bei einem sogenannten „Schiffsjungentreffen“ in Laboe trat sie ganz kindlich impulsiv mit dem Lied von Cornelia Froboess „Lieber Gott, lass die Sonne wieder scheinen“ vor das Publikum. Ihr herzerfrischender, ungekünstelter Vortrag fiel einem Agenten auf, der sie „entdeckte“. Eigens für Brigitte Reisberger, wurden vier Titel getextet und auch komponiert, die alle auf Platte aufgenommen wurden. Zwei von ihnen wurden „Renner“ – Brigitte Höhn bewahrt sie noch heute auf. „Lieber Papi, mach mal Sonntag“ und „Denk an Mutti, lieber Papi, wenn Du Auto fährst“ wurden bei der Plattenfirma Philips in Hamburg aufgenommen und sollten in eine Tournee münden, zumal auch die Folgetitel „Bitte schenk mir eine Eisenbahn“ und „Das sag ich meinem großen Bruder“ beim Publikum ankamen.

Die Partituren und Schallplatten aus den späten 50er Jahren bewahrt Brigitte Höhn noch heute auf.

Aber dann waren da die Anforderungen durch die Schule, Vater Wilhelm war auch nicht ganz überzeugt von den Star-Plänen für die Tochter – und so blieb dieser Lebensstrang unbearbeitet. Brigitte ging wieder zur Schule – und der Vater förderte die Begabung seiner Tochter im Rahmen privater Unterweisung. Es gab zusätzlichen Orgelunterricht und Kantoreipraxis. Und als 1967 das Studium aufgenommen wurde, da standen nicht nur die Fächer Klavier, Orgel, Gesang und Theorie auf dem Programm, sondern auch der Schatten des allmächtigen Vaters, der die Tochter nicht mehr unterwies, sondern „triezte“, wie sie selber sagt.

Ein systematischer Abnabelungsprozess war die Folge, den der Vater missbilligte, die Mutter schweigend duldete. Brigitte Reisberger aber war überzeugt, das richtige zu tun. Sie studierte Kirchenmusik an der Lübecker Musikhochschule und lernte ihren späteren Mann Herbert Höhn kennen, war Assistentin von Professor Uwe Röhl, seinerzeit Organist am Lübecker Dom, und eigentlich, so wollte es Röhl, sollte sie ihre Ausbildung bei der berühmten Organistin Marie-Claire Alain in Frankreich vervollkommnen. Doch soweit kam es letztlich nicht. Eine weitere Assistenz erfolgte in Heide / Holst an der St. Jürgen-Kirche – was ein ständiges Pendeln zwischen Heide und Lübeck zur Folge hatte. Brigitte Reisberger begleitete Amtshandlungen, spielte bei Gottesdiensten, leitete Stimmproben bei Chören und genoss bei aller Enttäuschung über die entgangene musikalische Erfahrung eines Frankreich-Exkurses die Möglichkeiten, die sich ihr boten, und die schließlich nach fünfjährigem Studium zur Prüfung in nahezu 20 Fächern in ihren Hauptfächern Orgel und Klavier, in Chorleitung, Instrumentenkunde und Formenlehre sowie 13 anderen Fächern führte.

Beständiges Üben ist auch heute noch obligatorisch.

Die folgenden Jahre verbringt Brigitte Reisberger in Wentorf bei Hamburg, hat eine gute Kantorei, mit der sie auftreten kann, spielt Gottesdienste und Amtshandlungen – und stellt nach vier oder fünf Jahren fest, dass ihr der Ort zu eng wird. Zu eng im Sinne von zu klein, aber auch im Sinne von: „Ich kann mehr“.

Kiel ist das Ziel. Dort ist gerade an der Luther-Kirche eine hauptamtliche Organistenstelle frei geworden. Brigitte Reisberger behauptet sich – ehrgeizig wie sie ist – gegen etliche Bewerber, bekommt die Stelle – und legt los, nunmehr auf einer dreimanualigen Orgel.

Viel kann sie selber regeln, aber ab und an ist ein Registrant nötig. Sie erinnert sich an Herbert Höhn, und der ist auch gleich bereit, auszuhelfen. 1975 heiraten die beiden, und erleben nun das typische Leben als Musiker. Sie hier, er dort, die Wohnsitze in Kiel und Schönberg. Es wird kompliziert. Doch dann stufen ihre Arbeitgeber beide Stellen von „hauptamtlich“ auf „nebenamtlich“ herunter. Das vorausgehende Hin und Her hat die beiden zermürbt. „Wir hatten beide von der Kirche die Nase voll und haben versucht, etwas anderes zu finden.“

Eine Lösung bietet sich, als das Ehepaar Höhn – es ist 1980 – von einer Ausschreibung der Emder Musikschule liest. Sie bekommen beide eine Stelle, aber fortan wird das Gefühl von Freiheit durch einen strengen Stundenplan abgelöst. Gleichwohl bleibt Emden der Lebensmittelpunkt beider Musiker. Sie konzertieren zumeist gemeinsam. Klavier und Orgel zu vier Händen spielen sie am liebsten. Das Ehepaar tritt im Rathaus auf, im Neuen Theater, in verschiedenen Kirchen. Herbert Höhn spielt zudem sonntags die Orgel in der Paulus-Gemeinde, Brigitte Höhn gründet in der damaligen Musikschule einen Frauenchor, den sie mit Energie und Akribie zu Höchstleistungen bringt, mit dem sie reist, für den sie immer aufs Neue in der Adventszeit Konzerte in der katholischen Kirche St. Michael entwickelt. Beide erfüllen ihr Leben.

Als Herbert Höhn 1997 in den Ruhestand geht, da öffnet sich für ihn eine ganz private Welt der Musik. Er sitzt wahlweise am Klavier, am Cembalo, an der Orgel und studiert Partituren – ohne Druck, ohne Zwang, nur für sich. 2009 ist es für Brigitte Höhn Zeit aufzuhören, wobei „aufhören“ nicht das richtige Wort ist. Auch nach dem Eintritt in den Ruhestand ist sie als Organistin gefragt – in Hinte, Westerhusen, Groß-Midlum, Loppersum, Canhusen und an der Emder Martin-Luther-Kirche. Immer steht sie auf Abruf bereit. Aber sie konzertiert auch weiterhin – auf Bitten ihres Mannes, der 2016 verstorben ist. Er hatte ihr ans Herz gelegt: „Mach weiter! Spiel weiter, damit Dein Talent nicht verkümmert“ Und das tut sie nun.

Brigitte Höhn gestaltete Musik im Gottesdienst, lädt zu Kirchenkonzerten, gestaltet musikalische Andachten – und sie beginnt, wieder einen kleinen Chor zu gründen, mit dem sie die „Messe des pêcheurs de Villerville“, die „Messe der Fischer von Villerville“ von Gabriel Fauré einstudieren will. „Das ist ein ganz zauberhaftes Werk“, schwärmt sie und geht mit großen Erwartungen ans Werk. Alles ist vorbereitet: 13 Sängerinnen wollen mitmachen, ein Orchester ist ins Auge gefasst. Dann macht sich die Pandemie breit, und alle großen Pläne kommen zum Erliegen. Nun soll 2022 ein Neustart gelingen, um dann, rund 140 Jahre, nachdem Fauré sie komponiert hatte, die Fischer-Messe vermutlich erstmals in Ostfriesland erklingen zu lassen.

Pressefoto aus der Zeit, als Brigitte Höhn, damals Reisberger, bei einer Oper mitwirkte und dafür mit anderen Mitgliedern eines kleinen Jugendchores japanisch eingekleidet wurde.

„Bei uns ging es immer nur um Musik“, sagt Brigitte Höhn und schaut sich mit etwas Wehmut im heimischen Wohnzimmer um, wo neben einer dreimanualigen Orgel auch ein Flügel und ein Cembalo stehen. Die Erinnerung an Ihren Mann ist gegenwärtig. Die meisten Partituren jedoch sind neu und sind für ihre eigenen Konzerte gedacht, die sie mit besonderen Vorlieben spickt. Johann Baptist Vanhal gehört dazu, der als einer der ersten Komponisten gilt, der von seiner Arbeit auch leben konnte. 1300 Kompositionen hat der Zeitgenosse Haydns und Mozarts hinterlassen. Musiker der Bach-Familie um den berühmten Johann Sebastian waren auch schon Thema eines Konzertes. Flötenuhrstücke spielt Brigitte Höhn sehr gerne. Ihre Lieblingskomponisten aber sind „die Franzosen“, wie sie selber sagt. „Da ist Farbe in der Musik – und dann diese Harmonik.“ Gabriel Fauré und seine Fischer-Messe sind also nicht ganz zufällig in ihren Blick geraten. Ein anderes Werk, das zu den Lieblingsstücken gehört, ist Faurés „Ein Gebet“.

Sie selber liebt die Improvisation – ob auf der Orgel oder auf dem Klavier, das ist egal. Und schon improvisiert sie mal eben zu „Happy Birthday“. Improvisation könne man lernen – zu einem gewissen Grad, sagt Brigitte Höhn. Im Studium musste sie einmal eine Fuge vierstimmig improvisieren und anschließend notieren. Das wurde dann so schwierig, dass das Werk zum Schluss kaum spielbar war. Aber Brigitte Höhn liebt die Herausforderung und ist offen für Experimente. So probt sie derzeit mit dem Kantor der Martin-Luther-Kirche, Marc Waskowiak, ein Arrangement des „Nussknackers“ von Peter Tschaikowski für Orgel vierhändig.Komponiert hat sie übrigens auch einmal. Da war sie zehn und schrieb eine kleines Werk nach dem anderen. Ein besonders reizendes Stück Musik gelang mit einem Walzer. Den kann sie immer noch spielen – allerdings nicht ohne ein sehr skeptisches „Na, ja!“ hinterherzuschicken.

► Das nächste Konzert von Brigitte Höhn findet am 9. Oktober um 17 Uhr in der Martin-Luther-Kirche in Emden statt und am 10. Oktober um 17 Uhr in der Kirche zu Hinte. Gemeinsam mit Marie Waskowiak (Flöte) und Esther Waskowiak (Violoncello) wird ein Programm aus Musik und Texten angeboten, das eine musikalische Reise nach Frankreich, Russland und dem Heiligen Land abbildet. Texte von Anne Frank, Gustave Flaubert und Alexander Pushkin liest Pastor Christoph Jebens.