„Matthias, mach‘ weiter!“

Leer. Der Pianist Matthias Kirschnereit, der am Sonntag, dem 16. Januar, im Theater an der Blinke ein Konzert zu seinem 60. Geburtstag gegeben hat, verbindet mit diesem Datum ein besonderes Ereignis. Vor zehn Jahren, am 16. Januar 2012, wurde ihm die Intendanz eines Kammermusikfestivals angetragen, das er dann unter dem Namen „Gezeiten-Konzerte“ zum Erfolg führte. „Das war etwas, das mein Leben in neue Bahnen lenken sollte.“

Empfohlen hatte ihn der damalige künstlerische Leiter der Niedersächsischen Musiktage, Dr. Markus Fein, heute Intendant und Geschäftsführer der Alten Oper Frankfurt. Und die Ostfriesische Landschaft als Trägerin des Festivals wählte Kirschnereit aus der letzten Dreiergruppe aus. „Ich war auf der Rückfahrt gerade mal auf Höhe Oldenburg, als der Anruf der Landschaft kam.“ Seither organisiert der Pianist jedes Jahr ein Festival, gewinnt viele Freunde und wird vom Publikum verehrt. Diese Wertschätzung weiß der Komponist wohl zu würdigen. Das ostfriesische Publikum sei das tollste Deutschlands, schwärmt er. „Man wird hier von Herzen getragen.“

Vor farbiger Lichtkulisse spielte Matthias Kirschnereit ein hinreißendes Programm. Bilder: Karlheinz Krämer

Was wünscht man sich zum 60. Geburtstag? Ach, seine Wünsche seien nicht spektakulär, sagt der Pianist. Er sei dankbar für das, was ihm das Leben geboten habe und hoffe, dies mit gleichbleibendem Enthusiasmus fortsetzen zu können. Er stelle aber fest, dass mit steigendem Alter das Gefühl wachse, musikalisch immer stärker zu den Quellen zu gelangen. Vielleicht hänge das mit dem Bewusstsein für die Endlichkeit des Lebens zusammen?

Er denkt kurz nach. Dann berichtet er von zwei Träumen, in denen er Komponisten begegnete. Einmal war es Brahms, der er bei der Norder Ludgerikirche traf. Brahms ist, das muss man wissen, einer von Kirschnereits „Herzenskomponisten“. „Wir spazierten von der Ludgerikirche aus durch Norden. Unterhalten haben wir uns nicht, aber es entstand dabei so eine spezielle Atmosphäre ….“ Ein anderes Mal war es Robert Schumann, dem der Musiker im Traum begegnete. Kirschnereit befand sich in diesen Tagen mitten in der Aufnahme einer CD. „Es war anstrengend, wir hatten wenig Zeit, und Pannen durfte es nicht geben.“ Unter diesem Druck war es ein skurriler Traum, der ihm Schumann als Skelett vor Augen führte. „Er stand am Klavier, die Haare klebten am Kopf, die Augen leuchteten grün.“ Und diese Gestalt sprach zu ihm: „Matthias, Du spielst meine Musik gut. Mach weiter“, hauchte der Traumgast aus dem Jenseits. Am nächsten Tag sei er tatsächlich mit neuer Energie und Motivation in die Proben gegangen, versichert der Musiker.

Rico Mecklenburg, Präsident der Ostfriesischen Landschaft, überreichte Matthias Kirschnereit einen gut gefüllten Korb als Geburtstagspräsent

Dass er endlich wieder öffentlich konzertieren kann, ist für Kirschnereit ein Geschenk – gerade recht für seinen Ehrentag, den er bewusst nicht mit einer heimischen Feier, sondern mit seiner Musik verbringen wollte. Wie es für den Nachwuchs aussehe, sei eine andere Geschichte, meint Kirschnereit. Er verbringe aktuell sehr viel Zeit in Rostock, wo er als Professor für das Fach Klavier arbeitet, um seine Studenten zu motivieren, und er organisiert für sie Konzerte im kleinsten Rahmen. Gleichwohl höre er von Veranstaltern, dass die um das Publikum fürchten. Viele Ältere würden aus Angst vor dem Virus solche Veranstaltungen meiden. Und er könne sich durchaus vorstellen, dass auch die „Gezeiten 2022“ darunter leiden könnten. Gleichwohl hoffe er sehr, „dass das kulturelle Leben wieder aufblühen wird“.

Kirschnereit kommt aus einem musikalischen Pfarrer-Haushalt. Alle Geschwister spielten Instrumente. Das Klavier aber war nicht besetzt, deshalb eroberte der junge Kirschnereit das altersschwache Ding im elterlichen Haushalt für sich. Doch ein mehrjähriger Aufenthalt in Namibia machte ihm sehr deutlich, dass es mit zwanzigminütigen Übungen pro Tag und einem Einsatz als Solist in einem Jugendorchester nicht getan ist. Entscheidend für seine künstlerische Entwicklung wurde der Einsatz seines Schwagers, der gegenüber den Eltern Druck machte und dafür sorgte, dass der 14-jährige Matthias nach Deutschland kam, wo er in Detmold eine erste Lehrerin fand.

Seine Zielsetzung, Berufsmusiker zu werden, findet Kirschnereit heute „unfassbar naiv“. Er habe nicht die leiseste Ahnung gehabt, was das bedeutet. Ein Beispiel: Zu Hause wurde viel gesungen, Musik von Bach und Schütz. „Diese Musik war mir geläufig, aber das 19. und 20. Jahrhundert kannte ich überhaupt nicht. Und ein Wunderkind war ich auch nicht.“ Also setzte er Übung an die Stelle von ererbtem Genie, kämpfte gegen immer wieder aufkommende Zweifel an. „Es gab ja so viele Pianisten, die solider aufgestellt waren.“

Die Übernahme der musikalischen Leitung der Gezeiten-Konzerte hat eine neue Facette in sein Leben gebracht, sagt Kirschnereit – und die Möglichkeit, Kolleginnen und Kollegen einzuladen, die er schätzt und deren Gestaltungskunst er selber genießt.

Bleibt noch die Sache mit den Bananen. Vor dem Konzert und in der Pause konsumiert Kirschnereit sie als Kraftspender, die den Körper nicht belasten. Inzwischen hat er festgestellt, dass auch die Kollegen das Obst zu schätzen wissen. Als er am 14. Januar in der Alter Oper Frankfurt mit dem Schumann-Quartett gastierte und ein ganzes Kilo Bananen bestellte, war die Begeisterung groß und alle griffen gerne zu. „Ich habe mal bei Boris Becker gesehen, dass er in den Spielpausen ständig zur Banane griff und hab‘ mir das abgeguckt.“

Matthias Kirschnereit muss weiter. Es stehen noch Verpflichtungen geselliger Natur auf dem Programm – und dabei gibt es dann auch etwas Gutes zu essen.