Das Wesen des Expressionismus

Emden. Ein neues Licht auf den Bestand der Kunsthallen-Sammlung werfen und dabei interessante Kontexte herstellen – das sind Ziele der wissenschaftlichen Direktorin der Kunsthalle, Lisa Felicitas Mattheis. Ihre aktuelle Ausstellung „Ein Bild der Zeit. Expressionismus in Film und Kunst“ setzt genau diesen Ansatz um. Der Dialog expressionistischer Positionen in Malerei, Grafik und Film zeigt nicht nur die über die Gattungsgrenzen hinaus verwendeten Effekte einer kulturellen Epoche, sondern erläutert in umfassender Darstellung zugleich das Wesen des Expressionismus als einer – bei aller gesellschaftlichen Zerrissenheit – nach dem Gesamtkunstwerk strebenden Zeit zwischen 1905 und 1925.

Standbild aus dem Film „von morgens bis mitternachts“ aus dem Jahr 1920

In den gemalten, aber auch in den bewegten Bildern werde deutlich, wie tief der Expressionismus von den Krisen seiner Zeit durchdrungen war und „wie lautstark er den rasanten gesellschaftlichen Umbrüchen Ausdruck verlieh“, merkt Lisa Felicitas Mattheis an, die die Ausstellung gemeinsam mit der wissenschaftlichen Assistentin Marike Schmidt kuratiert hat. Dabei stellen die beiden Ausstellungsmacherinnen jeweils einen Film pro Raum vor und konfrontieren Sequenzen und Standbilder auf Grund thematischer oder formaler Zusammenhänge mit Malerei und Grafik. Insgesamt elf Filme der Zeit zwischen 1919 und 1927 stehen dabei im Fokus und korrespondieren mit einer wesentlich größeren Zahl von Arbeiten der bildenden Kunst.

Karl Schmidt-Rottluff „Weiblicher Kopf“ aus dem Jahr 1915, Holzschnitt auf Japanpapier

Für die gemalten Kulissen im Film „Das Cabinet des Dr. Caligari“ (1920, Regisseur Robert Wiene) mit schrägen Hauswänden und verzerrten geometrischen Formen stehen Brückenbilder von Lyonel Feininger von 1913 und 1919 gegenüber. Die gesellschaftspolitische Zerrissenheit der Nachkriegszeit ergeht sich in wilden Vergnügungen. Dafür stehen im Caligari-Raum zum Beispiel Jahrmarktmotive – „Zirkus“ (1922) von Erich Heckel oder „Karussell“ (1908/09) von Ernst Ludwig Kirchner – oder auch Clownsbilder – wie „Junger Clown“ (1929) von Erich Heckel.

Im Ausstellungsraum, in dem der Horrorfilm „Nosferatu“ (1922, Regisseur Friedrich Wilhelm Murnau) vorgestellt wird, beherrschen Todesdarstellungen das bildliche Element. Käthe Kollwitz‘ „Der Tod packt eine Frau“ und „Kindersterben“ stehen neben dem „Trauerzug“ von Otto Dix und dem „Leichenschmaus“ von Otto Gleichmann.

In dem Film „Dr. Mabuse. Der Spieler“ (1922, Regisseur Fritz Lang) geht es um Manipulationen, Betrug und fragwürdige Experimente „Babylon Berlin“. Parallel dazu bietet die Kunsthalle Tanzdarstellungen, Kaffeehausmotive, Zirkusmanegen, Jahrmärkte auf. Das alles seien „in der politisch instabilen Zeit der Weimarer Republik beliebte Motive, um Alltags- und Realitätsflucht aber auch das Tragische und Komische zu illustrieren“, heißt es dazu im umfangreichen Katalog, der zweisprachig auf Deutsch und Englisch erschienen ist.

Ein Höhepunkt des expressionistischen Films ist „Metropolis“ (1927, Regisseur Fritz Lang). Ihm widmet die Kunsthalle einen weiteren Raum, in dem die Mensch-Maschine in einer futuristischen Stadt dargestellt wird. Es geht um das Zurücktreten jeglicher Individualität und um gleichgeschaltete Massen. Kommentierend sind dazu Bilder gestellt wie die „Tiller Girls“ (vor 1927) von Karl Hofer, „Die Großstadt“ (1921) von Franz M. Jansen oder „Der Redner“ (1912) von Arthur Segal.

Paul Kunze „Wahnsinn“ von 1912, Holzschnitt auf Papier

Durch die gesamte Ausstellung zieht sich die expressive Physiognomik der Menschen, die sich in den Standbildern der Filme, aber auch in Gemälden und Grafiken wiederfindet: starkes Makeup mit überzeichneten Augenringen lassen Gesichter wie drohende Masken wirken und korrespondieren mit stilisierten oder abstrakten Köpfen. Dabei muss man sich klarmachen, dass im Expressionismus die Malerei dem Film vorausgeht. Während die expressionistische Formensprache sich in der Malerei seit 1905 herausbildet, folgt der Film erst rund 15 Jahre später, also nach dem 1. Weltkrieg.

Karl Hofer „Tiller Girls“ von 1927, Öl auf Leinwand. Bilder: Kunsthalle Emden

Die Ausstellung bezieht sich ausdrücklich auf Kunsthallenstifter Henri Nannen, der seiner Kunsthalle in Emden einst „ein beträchtliches Konvolut expressionistischer Grafik und Malerei“ gestiftet hatte. Leitgedanke der Ausstellungsmacher war die Frage, wie man in einem Kunstmuseum des 21. Jahrhunderts den Expressionismus „und die darin inhärenten Potentiale“ erfahrbar machen könne. Die Antwort auf diese Frage ist die jetzige Ausstellung, die in einem Gang durch einen kleinen Teil der Film- und der Kunstgeschichte Einblicke in künstlerisches Wechselspiel gibt, ebenso aber die Zeitgeschichte einer problematischen Epoche einfängt.

► Die Ausstellung „Ein Bild der Zeit. Expressionismus in Film und Kunst“ist bis zum 12. Juni zu sehen. Öffentliche Führungen an jedem Sonntag um 11.30 Uhr. Katalog: 240 Seiten, 29,90 Euro