Die Amtskette der Stadt und ihrer Bürger

Auf den Spuren eines historischen Repräsentationsobjektes

Emden. Goldschmiedemeister Franz Richter (1871 bis 1931) sitzt in seinem Emder Atelier und arbeitet. Er hat ein höchst diffiziles Stück auf dem Tisch, das seine ganze Konzentration erfordert, weil es so bedeutsam ist. Richter hat den Auftrag erhalten, für den Kaiser-Besuch eine Amtskette für den ersten Repräsentanten der Stadt, Oberbürgermeister Leo Fürbringer anzufertigen – eine Amtskette, die in dieser fernen Provinz ihresgleichen sucht. Denn obwohl Emden von der Einwohnerzahl her zu klein ist, hat Kaiser Wilhelm II. höchstselbst genehmigt, dass die Kette nach dem Entwurf des Zeichenlehrers am Königlichen Wilhelms-Gymnasium, August Ruhwoldt, aus purem Gold bestehen soll. 600 Gramm Gold, dazu Diamanten, Saphir, Emaille – das sind die Bestandteile, die Richter nun zu einer vielgliedrigen Amtskette zusammenfügt.

Die Amtskette von 1902, wie sie im „Journal der Goldschmiedekunst“ von 1904 abgebildet wurde

Er hat für den Auftrag einige Unbequemlichkeiten in Kauf nehmen müssen. So gab es zunächst einen Wettbewerb unter den Goldschmieden der Stadt Emden, aus dem er siegreich hervorging. Sodann musste er versichern, dass die Kette wirklich in ihren wesentlichen Bestandteilen in Emden gefertigt wird. Und schließlich wird seine Arbeit von einer Kommission regelmäßig begutachtet – und zwar mehrmals in der Woche. Richter leistet gute Arbeit. Nicht nur die Kommission und der Oberbürgermeister sind zufrieden. 1904 erscheint zudem im „Journal der Goldschmiedekunst“ in Leipzig ein Bericht über die Emder Amtskette, in dem es heißt: „Unter den verschiedenen … Prunkketten der jüngsten Zeit ragt besonders die der Stadt Emden hervor …“ Und über Franz Richter findet sich der Satz: „Das fertige Werk rühmt seinen Meister und bekundet, dass die Goldschmiedekunst in Emden auf sehr achtbarer Höhe steht.“ Das Resümee des Journals: „Die Goldschmiedearbeit an der Kette … ist eine vollendete und des hohen Geschenkgebers würdig.“

Schuf die Amtskette: Goldschmied Franz Richter

Am 30. Juli 1902 ist es soweit. Der Kaiser kommt zu Besuch, und Fürbringer, dem die Kette am 18. August vor 120 Jahren offiziell verliehen wurde, präsentiert sich erstmals mit dem neuen Schmuck als Repräsentant einer stolzen Stadt. Denn der Kaiser verbindet einen ganz bestimmten Zweck mit seiner Reise. Die Visite gilt dem wirtschaftlichen Aufbruch einer kleinen Stadt, die durch den neuen Hafen, den nordwestlichsten im Herrschergebiet, einen mächtigen Aufschwung nehmen soll. Und nur des Hafens wegen durfte die Amtskette aus Gold sein. Sonst wäre Silber das angemessene Material gewesen.

Gehört zur Amtskette: das Goldene Buch der Stadt, in dem sich der Kaiser bei seinem Emden-Besuch eintrug

Die Amtskette wird nur zu besonderen Gelegenheiten getragen. So halten es auch die Nachfolger Leo Fürbringers. Und immer prangt die Kaiser-Miniatur im Zentrum des Repräsentationsstückes. Dann kommt der Zweite Weltkrieg. Die Stadt Emden beginnt schon im September 1939 mit der Auslagerung ihres Kunst- und Kulturgutes. Es gibt sehr konkrete Anweisungen, wohin der wertvollste Besitz der geschichtsträchtigen Stadt unterzubringen ist. Allerdings gelten diese Bestimmungen letztlich nicht für die Amtskette und das Goldene Buch, das ebenfalls zum Kaiser-Besuch gefertigt wurde und in das dieser sich als erster eingetragen hat. Beide Teile sollten eigentlich nach Norden ausgelagert werden. Aber es kommt anders.

Der Emder Dietrich Janssen hat sich mit den Sicherungsbemühungen der Stadt beschäftigt und eine genaue Übersicht zusammengetragen. In den „Anweisungen zur Sicherung von Kunst- und Kulturgut“ findet sich im Mai 1940 eine Notiz, die Oberbürgermeister Carl Renken an Stadtoberinspektor Voget vom Stadtbauamt richtet: „Ich bitte um Bestätigung, daß das Goldene Buch und die Amtskette nicht mit nach Norden geschafft worden sind.“ Handschriftlich hat Voget darunter vermerkt: „Das Goldene Buch und die Amtskette sind noch hier.“ Renken ordnet sodann an, dass die beiden Exponate auch in Emden bleiben sollen. Im Oktober 1941 befinden sich beide „im Panzerschrank“, wobei nicht genau ausgeführt wird, wo sich dieser Tresor befindet.

Verblasst: Aufnahme der Amtskette mit den Nazi-Emblemen

Wann genau die Amtskette im Sinne der Nationalsozialisten verändert wird, ist nicht überliefert. Auf jeden Fall werden die Miniatur der Hohenzollernkrone und das Medaillon mit dem Kaiserbildnis aus dem Schmuckstück herausgenommen und durch Hakenkreuz und Reichsadler ersetzt. Von den entfernten Originalstücken der wilhelmischen Zeit – Krone und Bildnis – fehlt bis heute jede Spur.

Was dann mit der Amtskette passiert, ist in der Familie des Polizisten August Dröge nur mündlich überliefert worden. Dröge wird nämlich kurz vor der Zerstörung der Stadt eingesetzt, um zehn Familien zu begleiten, die nach Renkenberge bei Lathen im Emsland in Sicherheit gebracht werden sollen. Kurz vor dem Verlassen der Stadt drückt man dem Beamten eine Kassette in die Hand. Der Inhalt: die Amtskette des Oberbürgermeisters. Er solle sie in Sicherheit bringen, lautet der Auftrag.

Dröge ist ein akkurater Beamter. Er folgt der Anweisung und bringt die Kassette mit dem Hoheitszeichen auf dem Dachboden eines Reihenhauses in Renkenberge unter, wo sie zunächst bleibt. Doch nach Kriegsende strömen Soldaten – angeblich sind es Polen und Amerikaner – in die Gemeinde Renkenberge und durchsuchen die Häuser nach Wertgegenständen. Dröge reagiert schnell. In einem unbeobachteten Moment holt er die Amtskette, rennt hinter das Haus und wirft das goldene Stück mit Schwung in die Dachrinne des Häuschen, das er und seine Frau Hermine in Renkenberge bewohnen. Seine Tat bleibt geheim, doch dem Polizisten ist der Schreck in die Glieder gefahren. Er will die Kette loswerden.

Über den Fortgang der Geschichte haben sich in Familie Dröge zwei Versionen erhalten. Die eine lautet so: Dröge macht sich selber mit seiner Frau per Zug auf den Rückweg nach Emden und übergibt die Amtskette dem damaligen Oberbürgermeister Georg Frickenstein. Die andere ist etwas komplizierter: Dröge übergibt die Kassette einer jungen Frau, die auf einem Gut in Renkenberge eine Landwirtschaftslehre absolviert, aber regelmäßig mit dem Rad nach Emden fährt. Sie wird von Dröge beauftragt, das Paket bei Malermeister Susemihl in der Kranstraße abzuliefern, was sie auch erledigt.

Die Amtskette ist nun wieder in Emden, aber sie weist noch die Nazi-Insignien auf. Irgendwann entfernt man Hakenkreuz und Reichsadler. Der Kette fehlt damit aber ihre Mitte. Und acht Emder Oberbürgermeister müssen sich in der Folge damit abfinden, dass die Amtskette nur noch ein Torso ist. Bis 1994.

Eine leere Mitte: die Amtskette ohne Kaiser-Bildnis und Krone

Fast 50 Jahre nach den Ereignissen in Renkenberge bereitet sich die Stadt auf ein Doppeljubiläum vor, das im Folgejahr stattfinden soll. 500 Jahre zuvor – 1495 – hatten sich die Emder nämlich für viel Geld vom damaligen König Maximilian ein Stadtwappen gekauft – das „Engelke up de Mür“, und 400 Jahre zuvor – 1595 – hatte man sich im Zuge der sogenannten „Emder Revolution“ des Landesherrn entledigt und ihn damit gezwungen, seine Residenz nach Aurich zu verlegen. In Emden macht sich Feierlaune breit.

In diese Vorbereitungen hinein kündigt Goldschmiedemeister Hans-Jürgen Richter, Enkel von Franz Richter, an, die Amtskette wieder in den ursprünglichen Zustand zurückzuversetzen. Ein Geschenk der Familie Richter im Andenken an den Großvater. Das Problem: Das Meisterstück ist nie fotografisch dokumentiert worden, so dass man das Kaiserbildnis nicht exakt erkennen kann. Auch die Familie hat keine Unterlagen. Die sind im Krieg verbrannt. Hans-Jürgen Richter und seine Schwester Elske Visser beginnen mit den Recherchen. Aber alle Bemühungen, zwischen Emden und Berlin ein Foto der Kette zu finden, dass so scharf ist, dass es eine Nachbildung der winzigen Emaille-Arbeit erlauben würde, scheitern.

Brachte die Amtskette 2002 wieder in den ursprünglichen Zustand: Hans-Jürgen Richter

Der damalige Oberbürgermeister Alwin Brinkmann, der sich beim Anlegen der Amtskette immer äußerste Zurückhaltung auferlegte, sie aber zu besonderen Gelegenheiten selbstverständlich trug, machte damals den Vorschlag, an die Stelle des Kaisermedaillons ein symbolisches Element einzufügen – etwa eine Erinnerung an den Tag der Einsetzung des Grundgesetzes. Brinkmann schlug damals auch vor, dass man die Kette mitsamt dem Goldenen Buch im Museum ausstellen und nur bei Bedarf ausleihen sollte. Richter entwickelte inzwischen den Gedanken, an die Stelle des Medaillons eine Münze mit dem Bild Wilhelms einzufügen. Das alles aber klappt nicht. Die Herrichtung der Amtskette in den ursprünglichen Zustand findet erst 2002 statt – zum 100-jährigen Bestehen des Emder Hafens.

Kaiser-Porträt und Krone: die Amtskette im heutigen Zustand

29 Gramm Gold und 39 Diamanten von insgesamt 0,38 Karat und ein Saphir von 0,78 Karat benötigt Richter alleine, um die Hohenzollernkrone in Miniatur wieder herzustellen. 100 Arbeitsstunden investiert er dafür. Die Herstellung des Kaiser-Porträts ist aufgrund der unterschiedlichen Schmelzpunkte der Emaillefarben problematisch. Goldschmiedin Angelika Simon-Rössler im hessischen Fernwald gelingt es erst im zweiten Anlauf, das herrschaftliche Porträt fertigzustellen.

Schließlich ist es soweit. Die Amtskette ist restauriert und zeigt den Zustand von 1902. Und Oberbürgermeister Brinkmann ist sich bewusst: „Es ist die Amtskette der Stadt Emden und ihrer Bürger, die ich tragen darf.“