„Vielfach dokumentiert, nicht zu begreifen“

Emden. Was bedeutet Gedenken heute – 78 Jahre nach der Zerstörung der Emder Altstadt am 6. September 1944? Die, die es bewusst erlebt haben, werden immer weniger. Die Relikte des Zusammenbruchs sind überbaut oder erneuert.

Aber die Erinnerung, die lebt noch. Immer wenn der Kalender den 6. September anzeigt, dann werden auch die Nachgeborenen unruhig, selbst wenn viele Ereignisse positiver Art sich später ebenfalls mit diesem Datum verknüpfen. Die Einweihung des wieder aufgebauten Rathauses am 6. September 1962 etwa – und auch dieser 60jährige Jahrestag gehörte zum Portfolio einer Gedenkfeier 2022, in der sich der Rückblick mit der Gegenwart verknüpfte.

Schüler der BBS I gestalteten den Wortbeitrag zur Gedenkveranstaltung in der Neuen Kirche

Oberbürgermeister Tim Kruithoff wandte sich in seiner Gedenkansprache in der Neuen Kirche vielem zu: den Zerstörungen der Operation Hearing – „vielfach dokumentiert, aber nicht zu begreifen“, der Traumatisierung der Menschen – „körperlich und seelisch gezeichnet“, dem Aussehen des Ortskerns – „nur noch das Skelett einer Stadt“. Aber er ging auch den Ursachen nach, denn die Zerstörungen des Gemeinwesens hätten schon seit 1933 begonnen – „Bücherverbrennungen, Judenverfolgung, Synagogenbrand“.

Kruithoff ließ aber auch die andere Seite nicht aus und zählte auf, was deutsche Bomber in europäischen Städten angerichtet und damit unendliches Leid verursacht hätten. Und dann das eigentlich Schreckliche: „Das Leid und Elend unserer Vergangenheit ist die Gegenwart von heute.“ Er geißelte die Dummheit der Menschen, die grotesk anmute, weil sich die Geschichte – trotz aller Mahnungen – immer wiederhole. Angesichts dessen bleibe einem das „Nie wieder“ im Hals stecken.

Schüler der Berufsbildenden Schulen – darunter Ukrainer, alle in Schwarz gekleidet – dokumentierten diesen „Wahnsinn“ mit Erlebnissen von Flucht und Vertreibung und stellten das Damals dem Heute gegenüber. „If I can dream“ von Elvis Presley, von einer Schülerin am Klavier vorgetragen, bildete dabei den plakativen Ankerpunkt der Veranstaltung.

Und dann: Schweigeminute und Glockengeläut. Viele in der Stadt, mit vielen Dingen beschäftigt, mögen das gar nicht gehört oder gar überhört haben. Aber vielleicht bleibt denen, die bei der Veranstaltung dabei waren – rund 120 mögen es gewesen sein – etwas im Gedächtnis, was Tim Kruithoff zum Schluss seiner Rede erwähnte: Europa. Er verwies auf den einflussreichen französischen Aufklärer Abbé de Saint-Pierre (1658 bis 1743), dessen Ziel der ewige Friede in Europa war. Daher war es schlüssig, als Kruithoff deutlich machte, dass die europäische Idee „alternativlos“ sei.

Der Rathaus-Geburtstag wurde dann in kleinerer Runde im Rummel gefeiert. Hier stellten die beiden Moderatoren Edzard Wagenaar und Aiko Schmidt zunächst eine Reihe von Fotografien der unmittelbaren Nachkriegszeit aus dem Archiv von Georg Fokuhl vor, wussten dabei kleine Anekdoten einzuflechten – etwa jene von dem Kaufmann Karl Kracht, der das Rathaus-Grundstück kaufte und den noch stehenden Torso abreißen lassen wollte, um hier ein neues Kaufhaus zu bauen – ehe dann der Film der Wiedereröffnung des Rathauses gezeigt wurde, ein Dokument, das der Amateurfilmclub Emden am 6. September 1962 aufgenommen hatte.

Hier konnte man nicht nur Honoratioren bewundern, die die Museumsräume rauchend durchschritten, sondern auch die Amtskette, die Oberbürgermeister Hans Susemihl angelegt hatte, um die Ehrengäste aus Stadt und Land zu begrüßen. Auch die Kette zeigte deutlich die Zeichen einer wechselhaften Vergangenheit. Die Krone und das Kaisermedaillon sind – im Film deutlich zu erkennen – weg. Auch die von den Nazis an ihre Stelle eingesetzten Elemente sind verschwunden: Hakenkreuz und Reichsadler. Nicht nur Städte und Gebäude haben eine lange Geschichte, auch Symbole unterliegen dem Wandel.