Ein Künstler auf der Kanzel
Der Künstler Herbert Müller, der sich seit Jahrzehnten für die Toten des KZ Engerhafe einsetzt und jetzt in der Ludgerikirche eine Ausstellung zu diesem Thema zeigt, durfte am Sonntag (18. Juni) im Rahmen eines Gottesdienstes – dieser gehört zum Programm der Ausstellung – selber die Predigt halten. Müller, der in der Ludgerikirche getauft und konfirmiert wurde und daher eine besondere Beziehung zu dem Gebäude hat, stellte diese Predigt unter das Leitwort „Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?“ (Psalm 8, Vers 5ff) „Für mich war es ein sehr intensives, besonderes Gefühl, auf der Kanzel sprechen zu dürfen“, sagte Müller hinterher.
Weil es nicht oft vorkommt, dass ein bildender Künstler zum Predigen gebeten wird, und weil die Bilder Herbert Müllers eine im Grunde zeitlose Darstellung dafür sind, was Menschen anderen Menschen antun und schon immer angetan haben, seien seine Worte, von der barocken Kanzel der Ludgerikirche herab gesprochen, hier dokumentiert.
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„Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst. Du hast ihn wenig niedriger gemacht denn Gott, und mit Ehre und Schmuck hast du ihn gekrönt.“
Ich meine, in dieser Lutherübersetzung stark und kraftvoll das Staunen des Psalmisten darüber zu hören, wie Gott sich als der Schöpfer der Welt – von Himmeln, Mond und Sternen, wie es poetisch heißt – dem Menschen zuwendet, „seiner gedenkt“, ihn als sein Ebenbild und Gegenüber versteht, dem Menschen die Schöpfung anvertraut: „Du hast ihn zum Herrn gemacht über Deiner Hände Werk, alles hast du unter seine Füße getan.“ Und ich erschreckeeigentlich, wenn ich im Detail lese, dass Gott dem Menschen ausdrücklich die Natur, die zahmen und die wilden Tiere und die Fische im Meer in die Obhut gibt, vom Mitmenschen ganz zu schweigen.
Wir wissen doch, wohin das allzu oft geführt hat und führt … Und trotzdem: Was für ein großartiges, glanzvolles Bild des Menschen! Was für ein Vertrauen in den Menschen, in sein Verantwortungsbewusstsein.
Es wäre eine gute Stelle für mich, hier abzubrechen. Wie schön wäre es, bei diesem Menschenbild einfach zu verharren.
Sie haben jetzt über 16 Tage meineBilder vom Menschen in Ihrer Kirche aufgenommen, Menschen, die auf den ersten Blick so gar nicht von Ehre und Schmuck gekrönt sind, Abbildungen von Männern, die von anderen Männern zu Tode gequält worden sind: durch Knüppelschläge, durch Hungern lassen, durch Ungeschützt-dem-eisigen-Novemberwetter-überlassen-sein, durch Verweigern jeglicher Hilfe und menschlicher Zuwendung.
188 Opfer sind unter Qualen und beraubt aller Würde durch Handlungen anderer Menschen umgekommen, und ihre Schlächter – oder waren es nur Wachleute, Aufseher? – taten alles dazu, dass ihrer nach der physischen Auslöschung eben nicht gedacht werden sollte.
In Engerhafe wurden die Toten über zwei Monate hinweg in Gruben neben der Kirche ohne Gebet oder erinnernde Worte verscharrt: höchste Form der Verachtung noch im Tod. Alles wurde getan, sie zu zerbrechen, zu vernichten und jegliche Erinnerung an sie, jegliches Gedenken zu verhindern.
Aber die Systeme und Maschinerien der Folter funktionieren trotz aller – etwa unserer deutscher – Gründlichkeit nie perfekt. Es gibt Fehler im System des Irrsinns.
Acht Jahre nach dem Sterben in Engerhafe öffnete eine alliierte Kommission das Massengrab, untersuchte die Leichname, identifizierte die meisten von ihnen und beerdigte sie in Einzelgräbern. Die Kommission hinterließ Fotografien der sterblichen Überreste der Opfer in einem Grabungsbuch, einem Unikat, das ich 50 Jahre nach den Grabungen in einem Büroschrank in Victorbur wiederentdeckte.
Ausgehend von den Totenfotos, von Fotos von Schädeln, begann ich zu zeichnen – und dabei passierte etwas: Es entstanden Menschenbilder, und es begann ein Prozess, in dem die Opfer erst wieder sichtbar und dann gewürdigt wurden, ein Prozess, der über das Künstlerische hinausging.
Ich hatte beim Arbeiten an der Staffelei den Eindruck, dass die Schädel im Prozess des Zeichnens zunehmend lebendig wurden und individuelle Züge bekamen, es erstanden aus den bloßen Schädelknochen überlebensgroße Portraits, ich nannte sie Portraits aus dem Massengrab.
Portraits wurden und werden für in ihrer Zeit bedeutende Menschen gemacht, um zu repräsentieren und sicher auch in der Hoffnung, über die Lebenszeit hinaus in Erinnerung zu bleiben. Die Darstellungen sind oft erhöhend und verklärend. Ein Beispiel aus unserer Zeit sind die Kanzlerportraits in Berlin. Besonders auffällig hat sich Gerhard Schröder von dem Künstler Jörg Immendorf tatsächlich mit einer Art Heiligenschein darstellen lassen.
Bei den Herrschenden mag man diese Kunstgattung eitel nennen, angemessen erscheint sie mir für die Geschundenen, für Menschen, die eigentlich ausgetilgt sein sollten…. und die Portraits nach den sterblichen Überresten der Opfer gezeichnet, holten sie in einem ersten Schritt aus der Unsichtbarkeit.
Ein zweiter Schritt folgte in Holland. In den Niederlanden waren diese Portraits aus dem Massengrab erstmals in einer ehemaligen Klosterkirche ausgestellt. Die Menschenbilder hingen im Chor, nahe dem Altar, ein Ort einst vorbehalten dem Klerus und den Angesehenen. Diese Menschen, die längst in ihrer physischen Existenz vernichtet waren, nahmen jetzt mit ihrem Abbild einen besonders ehrenvollen, heiligen Ort ein und bekamen dadurch etwas von ihrer Würde zurück, jedenfalls verstanden es die Niederländer so, waren doch 44 ihrer Landsleute in Engerhafe umgekommen.
Die Grausamkeit der Geschehnisse in Engerhafe können wir nicht ungeschehen machen, letztlich nicht einmal begreifen, weil wir die Abgründe des Menschen nicht ausloten können, und wir können nicht die absolute Verlorenheit dieser Menschen in ihrer Todesstunde ausgleichen, wohl aber „dem Rad in die Speichen greifen“ und die Erinnerung wach halten an menschliches Leben, das doch, wie der Psalm sagt, von Gott so hoch angesetzt wird, dass es ihm selbst gleicht. Dieses Erinnern findet hier durch die Ausstellung ganz konkret in der Ludgerikirche statt. Die Bilder sind – auf Zeit – Teil dieser Kirche geworden, stellen Bezüge her, stellen Fragen und verändern die Situation.
Der architektonisch wunderbare Chorumgang ist für mich der schönste Sakralbau in Ostfriesland. Er war in vorreformatorischer Zeit der Ort, an dem Prozessionen stattfanden. Vielleicht gab es Bilder als Stationen eines Kreuzwegs, der eine Heilsgeschichte über das Martyrium Jesu bis zur Auferstehung erzählt. Ich sah das oft in Kirchen in Polen. Die mittelalterlichen Künstler stellten die Heilsgeschichte in Bildreihen dar. Früh habe ich daran gedacht, in den Folgen meiner Bilder wie diese mittelalterlichen Kollegen zu arbeiten, nur dass ich eben die Unheilsgeschichte darstellte, ohne Auferstehung und eigentlich ohne Hoffnung.
Und doch haben jetzt gerade diese Bilder des Unheils und der Trostlosigkeit einen Aufenthalt in diesem lichtdurchfluteten Chorumgang gefunden, und das Licht steht in der Gotik als Zeichen der Anwesenheit Gottes.
Wenn Sie aus dem Chorumgang und der Ausstellung durch dieses dagegen dunkle Kirchenschiff zurückkommen – vielleicht mit meinen Menschenbildern im Kopf -, treffen Sie hier an der Südwand auf die Bilder eines anderen Gequälten, der alles das Entsetzliche selbst erlitten hat und der uns bis heute in der Form jedes geschundenen und gedemütigten Menschen entgegentritt.
Gleichgesetzt in ihrem Leiden mit dem Mann am Kreuz ist es ein kleiner und später Versuch, die Opfer aus dem Konzentrationslager heute und hier doch noch mit Ehre und Schmuck zu krönen, indem wir ihrer im Angesicht des Gekreuzigten gedenken.