Nichts als Bücher

1. Teil

Emden. Das Buch hat heute immer noch einen hohen Stellenwert. Daher sind Empfehlungen für bestimmten Lesestoff eine Leidenschaft der Mitglieder der „Gesellschaft der Freunde der Johannes a Lasco Bibliothek“. Vorstandsmitglied Klaus Frerichs sammelt diese zumeist kurzen Empfehlungen und veröffentlicht sie in regelmäßigen Abständen – als Tipp von Mitgliedern für Mitglieder. Da diese Hinweise ein höchst spannender und unterhaltsamer Gang durch die Literatur- und Sachbuchszene sind, sollen sie nun in der Vorweihnachtszeit einem größeren Kreis zugängig gemacht werden.


Klaus Frerichs (Emden) empfiehlt: Günther Rühle „Ein alter Mann wird älter – Ein merkwürdiges Tagebuch“, Alexander Verlag, ISBN 978-3-89581-576-8, 216 Seiten. 22,90 Euro

„Das Buch des Jahres stammt von einem alten, weißen Mann,“ schrieb ein Kritiker des Berliner Tagesspiegel. Dieses Tagebuch ist geradezu ein Standardwerk über das Altsein, man könnte auch sagen: über den Versuch, im Alter nicht „zu veralten“.
Günther Rühle ist 96 Jahre alt, als er merkt, dass seine Sehkraft erschreckend schnell erlischt. Er ist geistig hellwach, aber an wissenschaftliches Arbeiten ist nicht mehr zu denken. Rühle war u.a. ein bedeutender Theaterkritiker, Feuilleton-Chef der FAZ, Intendant des Schauspiels in Frankfurt / Main. Was soll er jetzt machen? Er beginnt erblindend am 10. Oktober 2020 sein Tagebuch in einen PC einzugeben, das er am 21. April 2021 beendet. Es entsteht ein erstaunliches Werk eines erstaunlichen Mannes. Natürlich ist er oft niedergeschlagen, oft aber auch voller Energie. Häufig vermischen sich bei ihm, der immer mehr in sich hineinhorchen muss, auf eine unvermutete Weise (sonst nervt mich das oft) Traum und Wirklichkeit, zweimal träumt er sogar in heiterer Gelassenheit seinen Tod. Immer ragt auch die Vergangenheit in sein jetziges Leben, wird lebendig. Nach einer Leseprobe habe ich mir das Buch umgehend bestellt, war und bin schwer beeindruckt.

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Sybille Obst (Aurich) empfiehlt Oliver Hilmes „Witwe im Wahn: Das Leben der Alma Mahler-Werfel“, btb Verlag, ISBN 978-3-442-73411-5, 480 Seiten, 11 Euro

„Was für ein entsetzliches Weib!“ – mehr als einmal ging mir der Gedanke durch den Kopf bei dieser Lektüre! Aber was für ein tolles Buch: Oliver Hilmes hat eine umfassende Biographie von Alma Mahler-Werfel geschrieben, die sich auf z.T. unveröffentlichte Briefe und Tagebücher stützt und ein überaus aufschlussreiches Bild dieser schillernden Gestalt und ihrer Zeit zeichnet. Man bekommt einen Eindruck des Lebens der Künstler- und Literatengemeinde vor allem in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts und auch aus der Zeit bis zum 3. Reich und sogar darüber hinaus. Aber im Mittelpunkt steht „Muse oder Monster“ Alma, die Männer verschlingende Frau, der die prominenten Größen reihenweise zu Füßen lagen: Mahler, Gropius, Kokoschka, Werfel, Hauptmann und, und, und… Sie hatte sicher auch positive Seiten (muss ja wohl?), aber sie war herrschsüchtig, hysterisch (im medizinischen Sinn! Wird gut erklärt), antisemitisch, manchmal klug, aber eigentlich wirklich dumm, sexuell äußerst freizügig (in Wort und Tat) – und man fragt sich, wo ihre männlichen Opfer ihren Verstand gelassen haben, wenn sie sich auf dieses Wesen eingelassen haben. (Tröstlich sind gelegentliche Zitate aus Tagebüchern von Thomas Mann, der sie als einer der wenigen kritisch gesehen hat!) Man kann den Autor nur bewundern, dass er aus der Fülle des Materials (Almas Tagebücher müssen eine Tortur gewesen sein – Selbstbeweihräucherung ist noch untertrieben) eine so fesselnde und flüssig lesbare (aber auch schonungslose) Biographie erschaffen hat. Unbedingt empfehlenswert (was würden radikale Feministinnen wohl dazu sagen?)!!!

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Erwin Wenzel (Suurhusen) empfiehlt Henning Mankell „Der Verrückte“, Paul Zsolnay Verlag, ISBN 978-3-552-07249-7, 505 Seiten, 26 Euro. Die Erstausgabe in Schwedisch erschien 1977 mit dem Titel „Vettvillingen“

Dieser Roman entwickelt die Geschichte von Bertil Kras, der als Fremder und Kommunist von Stockholm in den hohen Norden im September 1947 in einer kleinen Stadt ankommt. In der Nähe der Stadt hatte die schwedische Regierung im Zweiten Weltkrieg Internierungslager für Kommunisten eingerichtet und damit den schwedischen Nazi-Kollaborateuren entsprochen. Die Existenz der Lager wurde im schwedischen Wohlfahrtstaat lange verschwiegen. Das Tabu wird von Bertil und seiner Gruppe aufgebrochen. Damit wird er zum Außenseiter und Sündenbock gestempelt. Ihm wird alles zur Last gelegt, was in der Stadt passiert, wie z. B. der Brand des Sägewerkes. Diese Genese des sozialen Todes wird grausam und präzise vom Erzähler beschrieben. Bertil schüttelt im Verlauf die Opferrolle ab und wird zum Handelnden. Er gewinnt sich, verliert aber zugleich Margot. Eine tragische Geschichte: Anpassung oder Widerstand! Ist doch immer noch aktuell oder?

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Claudia Lojewski-Bahr (Emden) empfiehlt: Ernst Bloch „Spuren“
Suhrkamp, ISBN: 978-3-51828-150-5, 219 Seiten, 16 Euro

Das Prinzip Hoffnung – in „Spuren“ zeigt Ernst Bloch, Philosophie ist lebbar unter diesem Leitstern. Blochs kurze Alltagsbeobachtungen, fast aphoristisch und sprachlich erweckend, lassen sich als Einladung betrachten, das Wahrnehmungssensorium zu schärfen und sich dem Zeitgeist des Missmuts entgegenzustellen.