„Der Ort muss klingen!“

Norden. Was ist Gedenken, und was bedeutet es?“ Mit dieser Frage beschäftigte sich ein Vortrag, den die Religionswissenschaftlerin Insa Eschebach am Freitag (7. Juli) im Rahmen der Ausstellung „Unsichtbares sichtbar machen – Das KZ vor der Haustür“ in der Norder Ludgerikirche hielt. R und 40 Gäste fanden sich im Chorumgang ein, dort, wo noch bis zum 31. Juli die Ausstellung von Herbert Müller zu sehen ist.

Konfrontationen: mittelalterliche Plastiken der Ludgerikirche, und Bildnisse von Gefangenen: Künstler Herbert Müller, Religionswissenschaftlerin Insa Eschebach, Michaela Kruse vom Kirchenvorstand der Gemeinde und Pastor Martin Specht

Eschebach, die 15 Jahre lang die Gedenkstätte KZ Ravensbrück in Brandenburg geleitet und dabei sehr viele Gedenkveranstaltungen mitgemacht oder organisiert hat, ging bei ihrem Vortrag vom Begriffspaar Gedenken und Erinnern aus. Das Erinnern sei ein individuelles Vermögen, das Gedenken dagegen ein kollektives Erinnern, das mit einer Vielzahl von Faktoren verknüpft sei. Welche dies sind, legte die Wissenschaftlerin in acht Thesen vor.

1. Trauer um einen Verlust, der von symbolhaften Handlungen wie dem Niederlegen von Kränzen oder privaten Objekten begleitet wird – als Zeichen der Solidarität oder als „Geschenk“ an die Toten. Intendiert ist hierbei auch der Prozess einer „Heilung“
2. Der Prozess einer Vergemeinschaftung
3. Das Moment einer Ehrung / Würdigung, im Zusammenhang mit dem Wort Ge-Denken als einer Verstärkung des bloßen „an jemanden denken“
4. Ein religiös nationaler Memorialcharakter, der seinen Bezug auch im christlichen (Heilige, Märtyrer) und antiken (vorbildlicher Tod eines Helden) Denken findet. Insa Eschebach sprach aber auch die Gelöbnisse der Bundeswehr an, die jeweils am 20. Juli im Bendlerblock in Berlin stattfinden. Der Block stand im Zentrum des Umsturzversuches gegen das nationalsozialistische Regime am 20. Juli 1944
5. Ein bestimmter Ort, an dem sich der Verstorbene, dessen gedacht wird, zuletzt als Lebender aufhielt, verknüpft mit der Vorstellung, dass Orte Vergangenes bewahren können
6. Jahrestage, verknüpft mit dem Gedanken „heute war es“
7. Das Gedenken „unwürdiger Toter“, die Täter waren
8. Der öffentliche Akt als Zeichen für einen „Neuanfang“

Insa Eschebach und Moderator Pastor Martin Specht während der angeregten Aussprache nach dem Vortrag

Bei alledem sei die Kenntnis über die historischen Ereignisse Voraussetzung für ein Gedenken, betonte Insa Eschebach. Dieses Wissen habe sich Herbert Müller angeeignet, um seine Arbeit für die Wieder-Sichtbarmachung des KZ Engerhafe leisten zu können. Seine Bilder seien so beeindruckend, „weil er dem Material seine Fremdheit belässt“, urteilte die Referentin und bezog sich dabei zum Beispiel auf die überdimensionierten Schädel-Bilder, die spannungsvoll und gleichzeitig irritierend seien.

Das Sichtbarmachen indes fordere die Anerkennung eines zuvor negierten Geschehens. Hier erinnerte ein Gründungsmitglied des Vereins Gedenkstätte KZ Engerhafe daran, dass erst mit der Vereinsgründung das Thema nicht mehr „versandete“, wie es zuvor geschehen sei. Und Müller selbst berichtete noch einmal von dem anfangs vergeblichen Bemühen, bei der Kommunalverwaltung, Gehör zu finden, um den Toten zumindest ihre Namen zurückzugeben. Insa Eschebach betonte, dass es tatsächlich Institutionen brauche, um von einem individuellen zu einem öffentlichen Gedenken zu kommen. Dazu gehöre auch, „den Ort zum Klingen zu bringen“ und beständig immer wieder neu zu bespielen, um Besuchsanlässe zu geben.

Eine andere Besucherin der Veranstaltung verwies darauf, dass das Denken ein rationaler Prozess sei, das Gedenken jedoch ein emotionaler. Zudem sei das Gedenken ein Beziehungsgeschehen. Nicht zuletzt gründe das Gedenken in der Vergangenheit, müsse aber immer mit Neuem angefüllt werden.

Aufmerksame Zuhörer und später auch Diskutierende waren zum Vortrag gekommen. Dieser fand direkt inmitten der Ausstellung statt. Im Hintergrund Peter und Erika Eschebach, zwei Geschwister der Referentin

Herbert Müller machte darauf aufmerksam, dass sich die Ausstellung und damit auch deren Anliegen „verselbständigt“ habe. Man müsse nicht an Schulen herantreten, sondern die Lehrer kämen von sich aus auf die Veranstalter zu, um Termine für Klassenbesuche abzumachen. Lehrer, so sagte Insa Eschebach, seien ohnehin auffallend häufig die Initiatoren von Gedenkstätten.

Die Moderation an diesem Abend lag bei Gemeindepastor Martin Specht, der an die regelmäßigen Gedenkveranstaltungen am 9. November erinnerte und auch aus dieser Position heraus den Abend eröffnete mit der Frage „Was bedeutet Gedenken?“