Die letzte Predigt

Am 27. August 2023 wurde Regionalbischof Dr. Detlef Klahr vom Dienst entpflichtet und in den Ruhestand verabschiedet. In seiner Funktion als Leitender Geistlicher sprach er zum letzten Mal in seiner Predigtkirche, der Martin-Luther-Kirche in Emden. „Kultur in Emden“ dokumentiert die Predigt des ranghöchsten Lutheraners in Ostfriesland.
Der Predigttext findet sich im Evangeliums des Markus, Kapitel 7, Vers 31 bis 37.

Gott, schenke uns ein Wort für unser Ohr,
und ein offenes Ohr für dein Wort.

Liebe Gemeinde!

„Sie halten ja am Sonntag ihre letzte Predigt“, sagte mir jemand auf dem Wochenmarkt. Und mit einem leichten Klopfen auf die Schulter fügte er noch hinzu: „Wir sind dabei!“

Ja, so eine letzte Predigt vor dem Ruhestand zu halten, das hat es schon in sich. Da ist es schön, in so viele vertraute Gesichter zu sehen. Ich freue mich, das Sie und Ihr alle hier seid – von nah und fern.

Die letzte Predigt – Dr. Detlef Klahr auf der Kanzel der Martin-Luther-Kirche. Bilder: Jens Schulze / Sprengel Ostfriesland-Ems

In der Lesung des Evangeliums haben wir es eben gehört: Jesus kam an das Galiläische Meer. Es tut gut, einfach mal am Meer zu sein. So dachten vielleicht die Jünger, besonders die Fischer unter ihnen. Und so mag es auch Jesus empfunden haben. Es tut gut, über das Wasser zu schauen, den leichten Wellenschlag am Uferrand oder Strand wahrzunehmen. Die frische Luft einzuatmen.

Er kam ans Galiläische Meer in die Nähe von Sidon. – Ortsangaben sind wichtig. Das Leben und seine Ereignisse werden verortet. Wie in unserem Leben auch. „Als ich dort oder da war.“ „Wo war das noch, als sich dies oder das ereignet hat?“ Oder, „da bin ich auch schon gewesen!“ Wo bist du geboren? Wo kommst du her, wo lebst du? Wo habt ihr euch kennengelernt? Antworten auf solche Fragen verbinden sich immer mit konkreten Orten.

Ich habe es immer als ein Privileg meines Dienstes empfunden, die vielen Ortschaften des Sprengels besuchen zu dürfen. Und mit jedem Ort verbinde ich Begegnungen mit Menschen und ihren Geschichten, mit Kirchen und Gemeindehäusern, mit Gottesdiensten und Versammlungen.

Und ja, Orte am Meer waren auch immer wieder dabei. Mit Namen wie Borkum, Juist, Langeoog oder Norddeich. Auf dem Kutter in Harlingersiel. Oder am Wasser der Ems, in Meppen, Haaren oder hier in Emden am Delft.

Etwas Humor kann nicht schaden – Blick ins Gottesdienst-Publikum in der voll besetzten Kirche

Weißt Du noch, als wir da am Meer waren? Nie wird er es vergessen haben, wo das war, als man ihn zu Jesus geführt hat. Da an jenem Tag am Galiläischen Meer. Wie sollte er auch vergessen, was sein Leben so radikal verändert hat. Er kam doch taub und stumm und konnte hören und reden als er von dort wieder weg ging. Er wird vielleicht sagen: „Gott sei Dank bin ich in meinem Leben geführt worden. Von Menschen und auch von Gott – wie an die Hand genommen.“

Ich finde das so erstaunlich im Leben, wir planen und denken es so oder so zu machen. Und dann ist da eine Begegnung, ein Ereignis und verändert unser Leben. Manchmal allmählich und manchmal wie im Handumdrehen: „Wenn ich da nicht nach links, sondern nach rechts gegangen wäre, hätte ich Dich nicht getroffen. Wenn Du mich da nicht mitgenommen hättest, dann hätte ich meine Frau nie kennengelernt.“

Wir alle werden solche Momente und Begegnungen erinnern, die für unser Leben prägend und bestimmend waren. Das gilt auch für unseren Glauben. Wenn ich den oder die nicht getroffen hätte, wenn ich nicht dahin gegangen wäre, wenn der mich nicht mitgenommen hätte in die Kirche, in den Jugendkreis, auf die Freizeit, es wäre ganz anders verlaufen mit meinem Glauben und mit meinem Leben.

Gute Wünsche der jungen Leute im Sprengel

Es sind Menschen, denen wir begegnen, die unser Leben – oft ganz unbewusst – in eine andere – manchmal ganz neue Richtig bringen. Der Liederdichter und Pastor Philipp Spitta, hat einmal beim Abschied aus einer Gemeinde gesagt: „Es gehört zu dem besonderen des Dienstes eines Seelsorgers und Pastoren, dass Gott uns durch den Glauben mit Menschen vertraut macht, die wir vorher gar nicht gekannt haben.“

Sie brachten einen zu Jesus der war taub und stumm. – Alleine wäre der wohl nicht an das Meer gegangen. Er hat ja nichts gehört und konnte auch nicht fragen, als die anderen sich auf den Weg machten. Konnte wohl auch nichts wissen, von dem, was die anderen über Jesus erzählten.

Mich berührt genau dies an der Geschichte, dass da welche sind, denen die Not des anderen nicht egal ist. Verwandte, Freunde, Weggefährten? Das gehört für mich zum Auftrag der Kirche. Und das habe ich in den Gemeinden, Einrichtungen und Diensten unseres Sprengels immer wieder gesehen. Solidarität mit denen, die es nötig haben. Einsatz für die, die es alleine nicht schaffen können. Die Stimme erheben für die, deren Stimme nicht oder nicht mehr gehört wird. Annehmen und begleiten, Teilhabe ermöglichen. Integrieren – nicht ausgrenzen. Helfen – nicht wegsehen. Und so – manchmal auch ohne es vielleicht selbst zu ahnen – die Kraft und die Hoffnung des Glaubens sichtbar werden zu lassen.

„Lege ihm die Hand auf“, so bitten sie. Eine Geste des Segnens, des Berührens und der Nähe für den, der so isoliert ist. Nichts hören, nichts reden. Wie soll er kommunizieren, wie soll er sich mitteilen und andere sich ihm. Berührung war die Art der Kommunikation, die er wahrnahm, die er geben konnte und selbst empfing.

Zu meinen Aufgaben als Regionalbischof gehörten die Ordinationen und auch Einführungen von Pastorinnen und Pastoren, oder die Einführungen von Superintendenten. Dann sagte ich: „Wir wollen dich segnen und dir die Hand auflegen“. Und glauben dürfen wir, dass in dieser Geste sich Gott uns so zuwendet in seinem Wort, dass wir seinen Segen in unserem Tun und Lassen spüren dürfen.

Immer ist es mir dann auch bewusst gewesen, dass mir die Hand aufgelegt wurde bei der Ordination vor 37 Jahren und bei den Einführungen in die unterschiedlichen Ämter unserer Kirche. Auch heute wird mir gleich wieder die Hand zum Segen aufgelegt. „Lege ihm die Hand auf!“ Segen empfangen und weitergeben ist ein wunderbarer Auftrag für uns Christen und für unsere Kirche. Dabei ist es nicht unser Auftrag, den Segen sparsam zu verwalten, sondern großzügig weiterzugeben. Jeder Segen stimmt ein in die Bitte der Menschen, die den Taubstummen zu Jesus bringen: „Lege ihm die Hand auf.“ Es ist die Bitte um die heilende, verändernde Kraft der Zuwendung, wie sie in Christus für alle Menschen sichtbar geworden ist.

Jesus nimmt den taubstummen Mann aus der Menge beiseite. In der Begegnung auf Augenhöhe geht es um keine Zurschaustellung. Beiseite nehmen, nur der Kranke und Jesus. Eine heilende Berührung kann konkreter nicht sein.

Jesus berührt ihn da, wo die Not seines Lebens ihn fesselt. Er streckt die Finger in seine Ohren und berührt seine Zunge. Und mit einem Blick zum Himmel und einem Seufzen, wie wir es manchmal tun mögen, wenn uns eine Last bedrückt und wir die Hilfe Gottes für unser Leben erhoffen. Ein tiefes Ein- und Ausatmen, ein Blick zum Himmel und eine Bitte, die wir in Richtung Gott schicken.

Und der Evangelist Markus nennt uns hier das Wort, dass Jesus in seiner Muttersprache auf Aramäisch ausspricht: „Hephata – Tue dich auf!“

Es ist die Bitte wie ein Befehl „Tue dich auf!“ Es ist das Wort, das der Taubstumme noch nicht hört, das ihm aber die Befreiung der Isolation bringt. Hineingesprochen in diese Welt. Immer wieder. Sein „Hepahta – Tue dich auf!“ Christi Wort öffnet die Sinne für das Leben. „Sogleich taten sich seine Ohren auf, und die Fesseln seiner Zunge lösten sich und er redete richtig.“ So stehen die Menschen am Galiläischen Meer und wundern sich, wie man sich nur wundern kann, wie es heißt – „über alle Maßen“. Gottes Wort schafft Wunder.

Offizielles Abschiedsbild noch vor der Entpflichtung, die mit der Rückgabe des Amtskreuzes verbunden ist: Regionalbischof Dr. Detlef Klahr und Bischof Ralf Meister vor dem Altar der Martin-Luther-Kirche. Im Hintergrund das Wandrelief mit der Stillung des Sturms

Mit welchen Erwartungen und Wünschen habe ich mich auf den Weg gemacht? Man stellt dann wohl auch fest, dass manches unerfüllt oder auf der Strecke geblieben ist. Dass vieles anders kam, als wir es selbst an irgendeiner Stelle unseres Weges wollten. Und dann steht man da und wundert sich: Gott hat alles wohlgemacht. Er hat sein Wort gegeben in diese Welt. Er hat gerufen, gesegnet, berührt – das Leben heil gemacht. Er hat gesucht, gefunden und begleitet. Er hat seinen Segen und sein Wort hineingesprochen in die Welt und in die Situation unseres Lebens.

Dieses schöpferische Wort, das die Fesseln und Bande löst, die das Leben auf tausend Weise einengen und hindern. Er spricht es auch dort, wo unsere Möglichkeiten am Ende sind. Auch da, wo wir es nicht mehr hören und unser Mund stumm bleibt. Es ist immer das Wort, das dem Leben dient und den Tod in seine Grenzen weist. Das Wort das Wunder bewirkt gegen alle Bande und Stricke, die das Leben einengen. Dieses Wort, dem wir vertrauen auch in Zeiten der Not, der Anfechtung.

„Wenn du lange gegangen bist, bleibt das Wunder nicht aus, weil das Wunder immer geschieht und weil wir ohne Wunder nicht leben können“, sagt die Dichterin Hilde Domin. Und weiß dabei, dass das Wunder sich immer im Umfeld von Entsagung und Not ereignet, eben da, wo es am dringendsten gebraucht wird und da, wo sich das Leben in seiner ganzen Schönheit zeigt.

Wir sagen manchmal: „Dein Wort in Gottes Ohr.“ Und wir wollen dann so gerne, dass Gott uns erhört, dass das kommt und geschieht, was wir so sehr wünschen. Ja, unser Wort in Gottes Ohr.

Aber auch Gottes Wort in unsere Ohren. Dass es uns die Ohren öffnet und die Zunge löst. Bevor wir selbst zu Botinnen und Boten seiner befreienden Botschaft werden, sind wir immer erst einmal Hörende, Lauschende, ob da ein Wort, eine Botschaft sei, die unser Leben verändert. Ein Wort, das uns hilft, jetzt und überhaupt in unserem Leben. Ein Wort das uns vertrauen lässt und Hoffnung gibt – jetzt und darüber hinaus. Ein Wort, das im Glauben einstimmt in das staunende Lob der Menschen damals am Galiläischen Meer: „Er hat alles wohl gemacht; die Tauben macht er hörend und die Sprachlosen redend.“

Mir gefällt dieses Staunen. Es soll der letzte Satz meiner letzten Predigt im Amt sein.

Staunend und voller Dankbarkeit bekenne auch ich aus vollem Herzen: „Ja, Gott hat alles wohl gemacht“.

Amen.