Was den Menschen so schwer fällt …

Serie über die bibliophilen Schätze der Johannes a Lasco Bibliothek, Teil 15

Von Dr. Michael Weichenhan

Emden. Die Reihe, die Bücherschätze der Johannes a Lasco-Bibliothek vorstellt, wird in den nächsten Beiträgen Frauengestalten in den Blick nehmen. Es geht in der Tat um Frauengestalten, nicht aber um Personen weiblichen Geschlechts, die irgendwann einmal gelebt haben mögen. Die Rede wird sein von Bildern, von Erfindungen, von anziehenden oder auch abstoßenden Charakteren, deren Trägerinnen nur in literarischen Texten existieren.

Heute: ANTIGONE

Antigone ist vor allem aus dem gleichnamigen Drama des Dichters Sophokles (ca. 495 bis 405 v. Chr) bekannt. Die Johannes a Lasco-Bibliothek verfügt über eine griechische Textausgabe aller sieben erhaltenen Tragödien, die für den Schulunterricht gedacht waren (Signatur: Philol. 8° 0290 M).

Titelblatt der griechischen Ausgabe der Dramen des Sophokles. Herausgeber der Ausgabe war August Heinrich Matthiae, Altphilologe und Pädagoge, von 1802 bis 1835 Direktor des Herzoglichen Friedrichgymnasiums in der thüringischen Residenzstadt Altenburg. Das Exemplar trägt einen Besitzereintrag: E H Mecima-Wubbena, wahrscheinlich handelt es sich um Ento Harmannus Mecima-Wubbena, der von 1865 bis 1904 Pastor in Accum war

Antigone, vermutlich zwischen 14 und 18 Jahren alt, ist Tochter von Ödipus und Jokaste, wie auch ihre Schwester Ismene und die Brüder Polyneikes und Eteokles. Jene Ehe war in höchstem Maße problematisch gewesen, denn Ödipus war, wie sich schließlich herausstellte, auch der Sohn der Jokaste, seine Kinder somit zugleich seine Geschwister. Warum?

Der Mythos, der der Tragödie zu Grunde liegt, erzählt, dass die Götter das Herrschergeschlecht der Stadt Theben einst verflucht hatten. Das bedeutet: Die Schuld der Vorfahren wird auf die Nachkommen vererbt, jede Generation ist dem Fluch unterworfen. Ein Entrinnen gibt es nicht. Was immer geschieht, es trägt dazu bei, das verhängte Schicksal zu erfüllen.

So auch bei der inzestuösen Ehe von Mutter und Sohn. Jokaste erhängte sich, Ödipus riss sich die Augen aus und verließ die Stadt. Unser Stück setzt ein, nachdem zwischen den verfeindeten Brüdern ein Krieg entbrannt war: Polyneikes, von seinem Bruder vertrieben, zog in den Kampf gegen seine Heimatstadt. Im Zweikampf brachten sich die Brüder Eteokles und Polyneikes gegenseitig um, der eine, Eteokles (der Name bedeutet: „wahrer Ruhm“), galt als ihr Verteidiger, der andere, Polyneikes (der Name bedeutet: „viel Streit“), als Feind und Verräter. Unbestattet sollte sein Leichnam bleiben, den aasfressenden Tieren anheimgegeben. So hatte es der neue Herrscher Thebens, ein Verwandter des Ödipus namens Kreon, verfügt. [Bild 2]

Mecima-Wubbena hat in winziger Schrift Vokabeln und Angaben zur Metrik in sein Exemplar notiert

Antigone findet sich mit diesem Befehl nicht ab: sie besteht darauf, den Leichnam des Bruders zu bestatten, selbst wenn das die strengste Bestrafung, den Tod, zur Folge hat. Von Kreon zur Rede gestellt erklärt sie (v. 450 – 460):
Es war ja Zeus nicht, der es mir verkündet hat,
Noch hat die Gottheit, die den Toten Recht erteilt,
Je für die Menschen solche Satzungen bestimmt.
Auch glaubte ich, so viel vermöchte kein Befehl
Von dir, um ungeschriebene, ewige, göttliche
Gesetze zu überrennen als ein Sterblicher.
Denn nicht von heut‘ und gestern, sondern immerdar
Bestehn sie: niemand weiß, woher sie kommen sind.
Aus Furcht vor eines Menschen Willen wollt‘ ich mich
Am Recht der Götter nicht vergehn.

Schon der kurze Textausschnitt zeigt deutlich: Es geht in diesem Stück nicht mehr um schaurige Geschehnisse, über denen ein göttlicher Fluch waltet, nicht um dunkle Blutschande und ihre Folgen, nicht um ein Raunen, das aus ferner Urzeit hinüberdringt. Auf dem düsteren Hintergrund zeichnet sich vielmehr ein Konflikt ab, der den Zuschauern im Athen um 440 v. Chr. gegenwärtig war und auch uns, die wir das Drama nach fast 2500 Jahren lesen, gar nicht fremd ist.

Antigone beharrt auf der Geltung uralter, ja ewiger Normen, die von keiner politischen Macht außer Kraft gesetzt werden. „Götterrecht“ kann durch Menschenrecht nicht gebrochen werden. Es gibt, so könnte man sagen, eine Grenze, bis zu der Anordnungen eines Herrschers befolgt werden können oder müssen, aber es gibt eben genau diese Grenze, die zu überschreiten selbst ein Verbrechen zu begehen bedeutet.

Aber: Selbst wenn wir spüren, dass das zutrifft, bemerken wir, dass wir nicht einfach in anderen Worten wiederholen können, was Antigone da einklagt. Wir jedenfalls sprechen nicht ohne weiteres von Götterrecht, von ungeschriebenen Gesetzen oder Normen, an denen herrscherliche Anordnungen ihre Grenze finden. Der große zeitliche Abstand zwingt uns also, nicht nur aus dem Griechischen ins Deutsche, sondern auch Begriffe und Vorstellungen zu übersetzen. Historiker und Philologen haben für das genaue Verständnis der griechischen Tragödien viel geleistet, aber deren Einsichten müssen wir hier weitgehend auf sich beruhen lassen.

Die zweifellos einflussreichste Deutung des Dramas stammt von dem Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 bis 1831). Die „Antigone“ kannte er aus seinem Griechisch-Unterricht genau, und die Lektüre des Textes auf dem Gymnasium hat ihn nachhaltig beeinflusst. Hegel feiert diese Tragödie als eines der „vortrefflichsten Kunstwerke aller Zeiten“. Gerade dieses Drama und die Figur der Antigone spielten für sein gesamtes Denken eine überragende, vielleicht einzigartige Rolle. Den Konflikt zwischen Antigone und Kreon um die Bestattung des verstoßenen Polyneikes fasste er als den Gegensatz zwischen dem „öffentlichen Gesetz des Staats und der inneren Familienliebe und Pflicht gegen den Bruder“ auf. So in seiner Ästhetik.

Titelblatt des Nachdrucks des zweiten Bandes von Hegels Ästhetik, der zuerst 1837 erschien; Signatur JaLB: 08.24. 20. 355 (13) Hegel

Das bedeutet zunächst einmal, auch die Position des Kreon ernst zu nehmen. Wir alle neigen dazu, Partei zu ergreifen, uns auf eine Seite zu stellen, und das wird in der Regel die Seite Antigones sein. Denn mit der unglücklichen Frau, fast noch ein Mädchen, empfinden wir Mitleid, da sie ganz auf sich gestellt dem mächtigen Gebieter Kreon ausgeliefert ist.

Mit Parteinahme aber ist der Konflikt nahezu beseitigt, die Waage hat sich bereits auf eine Seite geneigt. Die Intelligenz des Sophokles bestand laut Hegel aber darin, eben nicht eine Geschichte auf die Bühne zu bringen, in der ein einzelner und hilfloser Mensch, verkörpert in der jungen Antigone, skrupelloser Macht ausgeliefert ist, sondern die Realität in ihrer Zweideutigkeit zu zeigen.

Kreon hat Argumente. Gilt denn der Verräter gleich dem Verteidiger der Stadt? Verstößt es nicht ebenso gegen das Empfinden für Gerechtigkeit und Anstand, Täter und Opfer Seite an Seite zu bestatten? Und steht nicht das Volk hinter ihm? Gibt es denn, abgesehen von der aufsässigen Antigone, irgendwo Widerspruch? Kreon bringt dies im Streit mit ihr vor. Die Entgegnung, die ausgebliebene Widerrede beruhe darauf, dass alle Kreon „nach dem Munde“ sprächen, verhallt vorerst ungehört (v. 473–525).

Das Drama erhält seine besondere Zuspitzung, indem die persönlich-familiäre und die politische Ebene miteinander verschränkt werden, die für Kreon und Antigone weitgehend getrennt sind: Antigone beharrt auf den Pflichten der Schwester gegenüber dem Bruder, die stärker sind als alle Anordnungen, die sich Menschen für das Zusammenleben geben mögen; für Kreon hingegen zählt allein das Wohlergehen der Stadt, das durch Strenge und Nüchternheit, zuweilen durch Zwang gesichert werden muss.

Verschränkt werden die beiden Bereiche dadurch, dass Kreons Sohn Haimon der Verlobte Antigones ist. Er ist nicht gewillt, das Todesurteil über seine künftige Ehefrau hinzunehmen, er appelliert an die Einsicht und das Gefühl des Vaters. Vergeblich. Von seinem Sohn, später dann auch von dem blinden Seher Teresias, der ihm das nahende Unheil verkündet, in die Ecke getrieben, wandelt sich der Staatsmann Kreon in einen skrupellosen Machtpolitiker. Er tönt (v. 663–667):

Wer sich empört und vergewaltigt das Gesetz
und meint, daß er den Führenden befehlen darf,
dem wird von meiner Seite niemals Lob zuteil.
Wen auch der Staat einsetzte, man gehorche ihm
im Kleinen selbst, sei’s Recht, sei es das Gegenteil!

Die Maske kalter Vernunft zerbröckelt, denn wohl ahnt er, dass Antigone mit ihrem Vorwurf, seine unangefochtene Stellung beruhe auf Furcht und Schmeichelei, doch richtig lag. Mahnung und Widerspruch gelten ihm als Tadel, ja als Ehrverletzung, die gestraft gehören. Und wie die meisten Tyrannen erweist er sich schließlich als Feigling. Er scheut sich, Antigone direkt hinzurichten, vielmehr beschließt er (v. 773–776):

Da draußen, wo sich keines Menschen Spur mehr zeigt,
verberg’ ich lebend sie in einem Felsengrab
mit so viel Nahrung nur, daß keine Schuld uns trifft
und der Befleckung nicht die ganze Stadt verfällt.

Es kommt, wie es kommen muss: Die Welt des Kreon stürzt zusammen wie ein Kartenhaus, der Freitod der Antigone ist für Haimon Anlass, sich selbst umzubringen, und ihnen folgt Euridike, die Frau Kreons. Familie und Stadt sind ruiniert. Die Einsicht, das alles durch Verblendung verschuldet zu haben, kommt für ihn zu spät. Er bleibt in einsamer Verzweiflung zurück, zum Fortleben verdammt.

Die Figur Kreon steht uns ziemlich klar vor Augen: Er ist schlicht das, was sein Name bedeutet: ein „Herrscher“, ein gewandter Stratege der Macht, den Erfolge zu Vermessenheit und besinnungsloser Selbstüberschätzung mit all ihren verheerenden Folgen treiben. Rätselhaft hingegen bleibt die Figur der Antigone, der „Gegen-Geborenen“, und es ist dieses Rätsel, das zu immer neuen Deutungen, Vergegenwärtigungen und Anverwandlungen Anlass gibt.

Die unbeugsame und einsame Rebellin gegen etabliertes Schein- und Unrecht, die Stimme des Gewissens und des ungeschriebenen Naturrechts gegen barbarische Tyrannei hat man in ihr gesehen, das strahlende Licht eines Martyriums. Insbesondere während des mörderischen 20. Jahrhunderts hat der Konflikt zwischen ihr und Kreon fasziniert. Erscheint eine Person wie Sophie Scholl nicht wie eine Antigone unter den Bedingungen der nationalsozialistischen Diktatur? Unter den kaum noch überschaubaren Transformationen der Figur Antigones seien nur zwei erwähnt, die sich unmittelbar auf das Stück des Sophokles beziehen.

In Alfred Döblins (1878 bis 1957) „November 1918“, entstanden zwischen 1937 und 1943 im Exil, ist es jenes Drama, das für den inneren Weg des schwer verwundeten Kriegsheimkehrers Friedrich Becker vom dekorierten Oberleutnant zu einem pazifistischen, ja christlichen Märtyrer eine Schlüsselfunktion innehat.

Vierter Band der Taschenbuchausgabe von Döblins „November 1918”, hg. von Helmuth Kiesel, Frankfurt/M. 2013

Becker, Altphilologe an einem Gymnasium, macht die erschreckende Entdeckung, dass seine Schüler, kaum ist der Krieg vorbei, mit Kreon sympathisieren, dem starken Mann, der endlich aufräumt. Und das Begräbnis eines verfemten Kollegen bringt ihm die Situation, in der er selbst wie Antigone handeln muss. Er wird, wie einst sie, verstoßen aus der guten Gesellschaft und stirbt, wie Rosa Luxemburg, der Döblin ebenfalls Züge Antigones verleiht, totgeschlagen von denen, die sich zu Garanten von Ehre, Anstand und Deutschlands Zukunft erklären.

Von Bertolt Brecht (1898 bis 1956) erschien 1947 eine sprachgewaltige Bearbeitung des Sophokleischen Textes. [Bild 5] Der Gedanke, Antigone in die Nähe einer christlichen Heiligen zu rücken wie Döblin, lag Brecht völlig fern. Für Brecht spricht aus Antigone der Geist des Widerstandes, der Auflehnung gegen Krieg und Unterdrückung, wenn sie Kreon entgegenschleudert, der sie des Säens von Zwietracht beschuldigt:

Brecht, Die Antigone des Sophokles, hg. von Werner Hecht, Frankfurt/M. 1988

ANTIGONE: Immer droht ihr Herrschenden doch, die Stadt würd uns fallen,
Hinfallen würde sie uneins, ein Mahl den andern und Fremden,
Und wir beugen die Nacken euch und schleppen euch Opfer, und hin fällt,
Also geschwächt, ein Mahl den Fremden, die Stadt uns.
KREON: Sagst du mir, ich würfe die Stadt den Fremden zum Mahle vor?
ANTIGONE: Selber wirft sie sich vor ihm, den Nacken dir beugend,
Denn es siehet der Mensch, den Nacken gebeugt, nicht, was auf ihn zukommt.
Nur die Erde sieht er, und ach, sie wird ihn bekommen.

Angesichts der Erfahrungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist von einem Konflikt, der sich aus verschiedenen Perspektiven ergibt und dann tragisch endet, nicht mehr die Rede. Döblin und Brecht sehen völlig anders als Hegel auf Sophokles’ Drama. Antigone, und zwar nur sie, steht für das, was wir Menschlichkeit nennen und was den Menschen so schwer zu verwirklichen fällt.