Bilder der Vergangenheit

Zwischen 1936 und 1938 spaziert der Emder Schriftleiter, Lokaljournalist und Dichter Johann Friedrich Dirks (1874 bis 1949) durch Emden und erinnert sich dabei an die Stadt um das Jahr 1880. Seine Betrachtungen veröffentlichte er in der Emder Zeitung von Dr. Zorn. – KiE veröffentlicht anlässlich des 150. Geburtstages einige der markanten Stationen auf diesem Spaziergang.

2. Teil: In Altstadtgassen


Ich kenne alle Gassen und Gässchen der Altstadt, aber die Kleine Burgstraße ist mir am vertrautesten. Wie oft bin ich schon durch diese Gasse gelaufen. Ach, sie hat ihr Aussehen verändert. Sieh, dort an der Tür des kleinen Hauses hängt noch der „Anklopfer“, der die Klingel ersetzt.

Ich weiß noch, dass wir Buben, wenn wir am Abend durch die Gasse gingen, es nicht lassen konnten, den eisernen Hammer hochzuheben und ihn wieder fallenzulassen. Das gab einen solchen Krach, dass das Haus dröhnte. Aber bevor der Hausbewohner – es war damals ein Schornsteinfeger – die Tür geöffnet hatte, waren wir schon ausgebüxt.

Der Spaziergänger: Johann Friedrich Dirks

Seltsam, ein eigentümliches Gefühl prickelt mir plötzlich in den Fingern, und die eine Hand löst sich schon aus der Manteltasche. Soll ich? Nein, nein, es geht nicht. Ich laufe nicht mehr so schnell wie vor 50 Jahren. Aber wenn ich noch ein Junge wäre, dann würde auch heute der Klöppel dort nicht so ruhig hängen bleiben. Dann würde er wieder klopfen.

Dann führt mich mein Weg weiter durch die Große Burgstraße, vorbei an hohen spitzgiebeligen Gebäuden und an kleinen Häusern zur Steinstraße. Ich schreite dort durch einen Gang und stehe vor einem alten verwitterten Gebäude. Und während ich in die Betrachtung des Gemäuers versunken bin, wird die Vergangenheit wach.

Ein Mann mit sehr ernster Miene kommt langsamen Schrittes die Steintreppe herab. Er hat den Zeigefinger an die Nase gelegt, als wenn er über eine ernste Frage nachdenkt. Er st gewiss ein Magister. Und ein zweiter kommt und ein dritter. Dann stehen sie zusammen und sprechen eifrig und machen ganz tiefsinnige Gesichter. Wohl wieder ihr Lieblingsthema. „Die Phaenomena, das astronomische Lehrgedicht des Aratos, meine Herren?“ Burschen mit Büchern unterm Arm drücken sich an ihnen vorbei, ganz leise, als wenn sie ihre Lehrer nicht stören wollen. Aber wenn sie ihnen erst den Rücken zugedreht haben, dann ziehen sie eine Grimasse.

Leben und arbeiten auf engstem Raum, wo die Gassen im Schatten lagen: hier die Große Deichstraße

Und der Kleine mit dem Lausbubengesicht macht sogar eine lange Nase. Ich muss unwillkürlich lachen, so dass eine Frau, die gerade in diesem Augenblick das Haus verlässt, mich verwundert ansieht. Sie kann ja auch nicht wissen, dass meine Bilder der Vergangenheit umgaukelten, die mich in die Zeit zurückversetzen, als in diesem Gebäude sich eine Gelehrtenschule, das alte Gymnasium, befand.

Und dann steigen wieder andere Bilder vor mir auf. Magister und Schüler sind verschwunden. Sie haben andere, schönere Räume bezogen. In dem alten Gebäude liegen aber Soldaten. Ich höre Kommandorufe und den schweren Marschtritt nägelbeschlagener Schuhe. Aber auch Soldatenlieder, lustige und schwermütige, klingen zu mir herüber. Und dann verstummt auch dieses Leben; die Soldaten ziehen aus, und die Häuser werden von Familien bezogen. Darüber ist nun auch schon fast ein halbes Jahrhundert verflossen.

Einige hundert Schritt weiter – und ich stehe auf dem Hindenburgplatz vor dem letzten Rest der einstigen Emsmauer. Und es ist wie immer, wenn ich hier stehe: das alte Gemäuer redet wieder von jenen Zeiten, als noch die Fluten der Ems an dieser Mauer rauschten, viele Schiffe hier vorbeisegelten. Das ist schon lange her, viele Jahrhunderte. Wie oft mögen hier Frauen und Kinder der Schiffer gestanden haben, um dem Mann und Vater nachzuwinken, der mit seinem kleinen Segler hinausfuhr aufs Meer und in fremde Länder. Und wie mancher Junge mag von dieser Mauer den Fahrzeugen nachgeschaut haben, mit Fernweh im Herzen, bis auch für ihn die Stunde kam, wo er die Planken eines Schiffes unter seinen Füßen hatte.

Auch ich habe oft als Junge auf dieser Mauer gesessen. Aber da war schon längst alles anders geworden. Der Emsstrom hatte seinen Weg verlegt, und wo einst der Schiffe Kiel die Flut durchfurchte, pflügte der Landmann. Ich schaute von hier aus auf den Deich, der vor mir lag, auf den Burggraben, der mit den Häusern am Kattewall einen solch malerischen Anblick gewährte. Ja, der Deich! Wie schön war es im Sommer, wenn wir dort oben unsere Drachen steigen ließen. Oder wenn wir unten „Slootje sprangen“. Wie manches mal sind wir dann zu kurz gesprungen und haben uns ein nasses Packje weggeholt. Aber das war nicht schlimm, es trocknete schon wieder am Deich im Sonnenschein.

Der Deich vom Burggraben bis zum Lotsentorntje beim „Bremer Schlüssel“ war unser Gebiet. Hier lernen wir auch viele Emder Originale kennen: Wulkau, Jan Rehbein, den süßen Georg, Swarte Harm. Und dann noch Rickelt Kujade. Ich sehe ihn noch deutlich vor mir, den großen breitschultrigen Mann mit dem Stoppelbart und den wässerigen Augen. Es war ein Püttgraver (Brunnenbauer), und man erzählte von ihm, dass er, wenn er einen Brunnen graben musste, vorher Petroleum oder, wie wir es nannten, „Gas“ trank, damit er gegen etwaige Gasgifte immun war.

Im Vorbeigehen: die Große Kirche mit den Turm und den vier Querhäusern sowie den Anbauten

Rickelt Kujacke gräbt keine Pütten mehr; er ist schon vor Jahren in die Heimaterde, die er so oft mit seinem Spaten bearbeitete, gesenkt worden. Auch der Deich ist nicht mehr vorhanden. Als der alten Emsstadt das Kleid zu eng wurde, hat man ihn abgetragen. Ebenso ist der Burggraben, auf dem wir am Sommer immer auf den Flöttjes spielten, und im Winter schöfelten oder das waghalsige „Schörske over“ liefen, der Stadterweiterung zum Opfer gefallen. Er wurde zugeschüttet. Beides war notwendig, aber mit Pütten und Deich ging ein Stück aus meiner abenteuerlichen Kindheit dahin.

Es ist auch mein Kasernenplatz nicht mehr, auf dem ich jetzt stehe. Er ist kunstsinnig zu einer schönen Gartenanlage umgestaltet worden. Aber wenn ich die drei alten Linden dort sehe, dann erwacht die frühere Zeit, und ich höre wieder die Stimme meines Lehrers: „Wir befinden uns hier auf einem geschichtlichen Boden, auf der ältesten der bebauten Stätten Emdens. Dort stand einst die Emder Burg. Hier, dieser Platz, der Kasernenplatz, war ein Teil des einstigen Burgplatzes. Schon im 14. Jahrhundert hatten die Emder Häuptlinge hier einen festen Wohnsitz. Die Abdena waren Burgherren, wie später die Cirksena.“

Zwistigkeiten zwischen Bürgertum und Burgherren führten 1595 zur Emder Revolution. Emder Bürger eroberten die Burg und zerstörten die Festungswerke. Eine neue Burg entstand. Aber im Jahre 1767 wurden auf Veranlassung Friedrichs des Großen, der nach dem Aussterben des Hauses Cirksena von Ostfriesland Besitz ergriffen hatte, die alte und die neue Burg abgebrochen. Aus dem gewonnenen Material wurde im Jahr 1775 dann hier die Kaserne gebaut.

Ja, der Kasernenplatz. Wir jungen Leute kannten alle Offiziere und Unteroffiziere des I. Bataillons der 78er. Und die Kommandos und die Exerzierregeln – wie wir sie kannten! Wenn wir Kritik abhielten – darin war uns der Herr Major gewiss nicht über. Und die militärischen Honneurs – ja, die konnten wir viel besser als die Rekruten. Wir hatten doch eine viel längere Dienstzeit hinter uns als sie. Wenn der Herr Major oder der Herr Hauptmann sporenklirrend an uns vorbeiliefen, dann standen wir stramm in Reih und Glied. Und der Herr Major oder der Herr Hauptmann grüßten militärisch wieder.

Nach Beendigung unseres Dienstes auf dem Kasernenplatz zogen wir singend durch die Stadt nach Hause. Manchmal in den Schulferien haben wir uns auch in der Zeit versehen. Wir liefen dann im Laufschritt. Aber wenn die Rathausuhr gerade neun Uhr ansagte, dann blieben wir bei der alten Soldatenwache stehen. Wir mussten doch das Signal des Hornisten hören. Und wenn er blies, sangen wir mit:
„Soldaten sollen nach Hause gehen.
Der Hauptmann hat’s gesagt.
Und nicht bei jungen Mädchen sehn.
Sonst werden sie bestraft.“