Im Zentrum der Stadt

Zwischen 1936 und 1938 spaziert der Emder Schriftleiter, Lokaljournalist und Dichter Johann Friedrich Dirks (1874 bis 1949) durch Emden und erinnert sich dabei an die Stadt um das Jahr 1880. Seine Betrachtungen veröffentlichte er in der Emder Zeitung von Dr. Zorn. – KiE veröffentlicht anlässlich des 150. Geburtstages einige der markanten Stationen auf diesem Spaziergang.

3. und letzter Teil:
Auf dem Neuen Markt


Auf meinem Gang durch die Stadt bin ich von der Großen Straße in die Lilienstraße eingebogen. Einen Blick werfe ich im Vorbeigehen wieder auf das Haus, in dem 1795 der Generalmajor von Blücher als Kommandeur der preußischen Grenztruppen gewohnt hat.

Er hat sich mit den Emdern gut verstanden, und nur ungern ist er aus Ostfriesland geschieden. Hatte er doch ein spätes Lebensglück gefunden. 53 Jahre war er alt, als er auf einem Festball in Aurich die 22-jährige Amalie von Colomb, die Tochter des Kriegs- und Kammerpräsidenten Peter von Colomb, kennenlernte. Sie wurde seine Frau. Im Juli 1795 fand die Trauung auf dem Gut Sandhorst statt. Im Dezember desselben Jahres wurde Blücher nach Münster versetzt. Die Emder haben ihn nicht vergessen und vor Jahren haben sie an dem Haus in der Lilienstraße, die ihm als Wohnung diente, eine Erinnerungstafel angebracht.

Ungewohnter Blick auf den Neuen Markt mit zahllosen Bäumen

Mein Weg führt mich wieder zum Neuen Markt. Still und verlassen liegt er da. Um seine Häuser hat der Herbstnebel einen grauen Schleier gelegt. Aber vielleicht morgen schon, wenn die Sonne den Nebel verscheucht und in ihre Fenster leuchtet und über ihre Dächer gleitet, zeigen sie wieder ihre Schönheit. Und der Fremde bleibt dann wohl einen Augenblick stehen und betrachtet die alten Giebel. Die ihn an Emdens Blütezeit erinnern.

Vierhundert Jahre sind vergangen, dass der Marktplatz angelegt wurde. Was hat er nicht alles gesehen und erlebt! Wie oft fluteten die Wellen der Musik über den großen Platz, war die Luft voll Gesang und Klang, wenn Markttag war. Und in das Brüllen der Kühe und Ochsen, das Blöken der Schafe und Lämmer mischte sich das Rufen und Schreien der Marktbezieher, das Jauchzen und Lachen der jungen Welt. Und große Aufmärsche hat er gesehen. Sänger sangen hier ihre Lieder. Aber er ist auch ein Richtplatz gewesen, auf dem der Scharfrichter sein blutiges Handwerk ausübte.

Nördlich der ehemaligen Waage stand das Alte Gasthaus, eine von vier kirchlichen Armenanstalten. Von ihm hat der Gasthaussiel seinen Namen erhalten. Später diente das Haus als städtisches Fleischhaus (Olle Vleyshuus). Im Jahre 1614 wurde das baufällig gewordene Gebäude abgebrochen. Die jetzige Bismarckstraße , die hinter ihm lag, wurde noch von alten Emdern „Achter’t olle Vleyshuus“ genannt.

Und dann wieder sind es Bilder aus der Jugendzeit, die ich sehe. Das Haus dort, auf dem früheren Grundstück der Münze, an der Ecke der Rademacherstraße, war einst der „Gasthof zur Sonne“. Wie oft habe ich in meiner Kindheit Tage vor ihm gestanden und die goldene Sonne in seinem Giebel angestaunt. Hohe Herrschaften nahmen hier auf der Durchreise Wohnung. Auch Blücher soll einst in diesem Hause mit seinen Offizieren fröhliche Feste gefeiert haben.

Dort, an der Nordseite, stand das Club-Gebäude. Mir ist, als sehe ich wieder die alten Emder Bürger, Kaufleute und Gelehrte ein- und ausgehen. Der kleine rundliche Kommerzienrat taucht vor mir auf und der lange Justizrat und der weißhaarige Kaufmann und Senator mit en lustigen Augen. Sie führen ein lebhaftes Gespräch.

Alle zehn Schritte bleiben sie stehen, und der Kommerzienrat stößt dann mit seinem Spazierstock mit dem Griff aus Elfenbein aufs Pflaster, gleichsam als wolle er seinen Worte Nachdruck verleihen, und der weißhaarige Kaufmann und Senator hebt den Zeigefinger in die Höhe und lächelt pfiffig: „Nein, so ist das!“ Und der lange Justizrat legt die Stirn in Falten: „Nach Paragraph …“ Langsam und bedächtig schreitet der alte Musiklehrer und Kompositeur über den Marktplatz. Er ist in einen langen Mantel gehüllt, auf dem Kopf trägt er einen weichen Schlapphut, und langes weißes Haupthaar gibt ihm das Aussehen eines Künstlers. Leise summt er eine Weise, und ein Lächeln fliegt über sein Gesicht: „… un danst ganz alleen up de achtersten Been.“

Und dann sehe ich die Stadtwaage wieder, wie sie früher war. Durch das große Tor bin ich gegangen, und schon umfängt mich der alte Marktbetrieb. Hier finden die Butter- und Käsemärkte statt, werden Fleischauktionen abgehalten, Güter und Vieh gewogen. Eine mächtige Wiegschale hängt an einem Balken. Der alte Marktmeister steht wieder vor mir. Er trägt die Brille auf der Nase, dass er über sie hinwegsehen kann. Das tut er besonders dann, wenn wir Burschen an ihn herantreten und ihn bitten, uns doch einmal zu wiegen.

Wenn er Zeit hat, dürfen wir uns auch wohl auf eine der Waagen stellen. Und er stellt dann unser Gewicht fest: „…söventig Pund Lebendgewicht! Tachendtig Pund Lebendgewicht!“ Und wenn es ihm hoch genug erscheint, meint er. „Du kannst d’r mit hen!“ Aber wenn es nach seiner Meinung nicht hoch genug ist, sagt er: „Jung, du musst mehr Speck eten! ’n stück as ’n Gesangbauk so dick!“ Das Gewicht ist bei ihm die Hauptsache.

Mir ist, als höre ich ihn noch sprechen, den alten Marktmeister. Und es sind doch fünfzig Jahre und mehr darüber vergangen. Schon längst hat er die Gewichtstücke aus der Hand gelegt und ist still von hinnen gegangen.

Im oberen Stockwerk der Waage hielt die französisch-reformierte Gemeinde ein Jahrhundert lang an Sonn- und Feiertagen ihre Gottesdienste ab. Ihre Mitglieder waren Nachkommen der aus ihrer Heimat Flandern und Brabant um ihres evangelischen Bekenntnisses willen vertriebenen Familien, die in Emden, der „Herberge der Gemeinde Gottes“, gastliche Aufnahme fanden und her im Jahre 1550 ihre Kirche stifteten. Vor einigen Jahrzehnten wurde sie mit der Emder reformierten Gemeinde vereinigt.

Sinnend setze ich meine Wanderung fort. Wie hat sich doch alles im Laufe der Jahre verändert! Von „Münze“ und „Gasthaus“ ist kein Stein mehr auf dem anderen geblieben, der „Gasthof zur Sonne“ wurde ein Wohnhaus, das Clubgebäude umgestaltet und die alte Waage das Parteihaus der NSDAP. Ja, auch Häuser haben ihre Schicksale.