Wenn Geistliche sich schlecht benehmen

Das neue Emder Jahrbuch für 2023 bietet sechs große Aufsätze und allerhand Berichte

Aurich. Rechtzeitig vor dem Oll‘ Mai, der am 13. Mai in der Auricher Lambertikirche stattfinden wird, haben die Herausgeber und Bearbeiter das Emder Jahrbuch 103 für das Jahr 2023 präsentiert. Die Pressekonferenz fand im Hauses des Niedersächsischen Landesarchivs in Aurich statt.

Die sechs großen Aufsätze des Bandes befassen sich mit Grenzgängern zwischen dem Rheiderland und dem Groningerland, Gaswerken in Ostfriesland, dem Kulturgutraub an Juden in der Nazizeit und mit einer innerstädtischen Verkehrsplanung in Emden, der in den 1970er Jahren fast ein ganzer Straßenzug mit architektonischem Altbestand zum Opfer gefallen wäre.

Stellen das neue Jahrbuch vor: Dr. Michael Hermann, Dr. Klaas-Dieter Voß, Johannes Berg, Vorstandsmitglied von 1820dieKUNST, Dr. Paul Weßels, und Dr. Matthias Stenger. Bild: Sebastian Schatz, OL

Wer sich aber in das Jahrbuch einlesen möchte, dem empfiehlt Dr. Michael Hermann, Leiter des Landesarchivs Abteilung Aurich, den Artikel über den Pastoren Erich Fridrich Bierhausen (gestorben 1774) aus Middels, der angezeigt wurde, weil er sich alles andere als vorbildlich und tugendhaft verhalten hatte. Die Vorwürfe: Bierhausen sei trunksüchtig, gewalttätig, sittenlos, treibe sich nachts herum und vernachlässige seine dienstlichen Pflichten. Zudem habe er öffentlich ausgehängte fürstliche Dekrete abgerissen und gegen die Obrigkeit gewettert.

1726 eskaliert die Situation. Die Leute aus Middels machen geltend, dass ihr Pastor „im Haupte verirret“ wäre. Bierhausen wird vom Konsistorium auf einige Wochen beurlaubt, seine Arbeit müssen Kollegen übernehmen, die zugleich angewiesen werden, den Gesundheitszustand Bierhausens zu überwachen. Zwei Wochen später gibt es wieder Ärger, als sich der Pastor mit dem Kollegen eines anderen Ortes anlegt und Morddrohungen ausstößt. Seine Vakanz von der Kanzel wird daraufhin verlängert. Dann verbessert sich der Zustand Bierhausens. Die Gemeinde will, dass er wieder auf der Kanzel steht, aber das Konsistorium lehnt ab, verlangt später Atteste, um Bierhausen wieder predigen zu lassen. 18 Jahre später ist er immer noch in Middels, aber nun setzt ihn die Gemeinde ab. Es gebe keine Akten, warum dies geschehe, schreibt Autor Jens Windorf.

Windorf, der 2020 an der Oldenburger Universität seine Master-Prüfung ablegte, hat die Geschichte von Pastor Bierhausen einer von rund 200 Gerichtsakten aus dem Niedersächsischen Landesarchiv entnommen. Da warte noch viel Arbeit auf künftige Bearbeiter, auch wenn wohl nicht alle Unterlagen so drastische Fälle aburteilen, meinte Hermann.

Dr. Paul Weßels, Leiter der Landschaftsbibliothek, hat sich mit einem „fast vergessenen Kapitel regionaler Energie- und Wirtschaftsgeschichte beschäftigt – mit Ostfrieslands Gaswerken. Die gab es ab 1860 in Emden und Leer. Die anderen Kommunen folgten später. Gaswerke gab es dann bis in die 70er Jahre, dann wurden sie stillgelegt. Anlass, sich mit diesem Thema zu beschäftigen, war für Weßels ein Zeitungsbericht, in dem die Anwohner des Auricher Gaswerkes gewarnt wurden, das Grundwasser nicht zum Trinken zu verwenden.

Zwei niederländische Beiträge stammen von Doktoranden, deren Forschungsarbeit von der Gerhard ten Doornkaat Koolman-Stiftung gefördert wird und die an den Universitäten Oldenburg und Groningen angesiedelt ist. Das Projekt, das vom Niedersächsischen Landesarchiv und der Johannes a Lasco Bibliothek unterstützt wird, und „Grenzgänger im Nordwesten“ betitelt ist, beschäftigt sich mit Alltagsmigration (Meggy Lennaerts) und mit dem grenzüberschreitenden Einfluss der Sprache (Gijs Altena).

Georg Kö, der drei Jahre lang als Provenienzforscher am Ostfriesischen Landesmuseum tätig war, befasst sich in seinem Beitrag mit der Geschichte des Kulturgutraubes im nationalsozialistischen Emden. Er beleuchte dabei die Strukturen des systematischen Vermögensentzuges an der jüdischen Bevölkerung und identifiziert die handelnden Personen.

Aiko Schmidt erinnert an Verkehrsplanung der 70er Jahren, als in den Stadtteilen Groß- und Klein-Faldern ganze Straßenzüge angerissen werden sollten. Es sei nicht zuletzt einem Umdenken in der Denkmalpflege z verdanken, dass der Abrisse verhindert werden konnte. Denn die hatten ihren Fokus vom Schutz sakraler ud herrschaftlicher Bausubstanz auch auf kleinbrgerliche Profanbauten erweitert.

Ein kleinerer Aufsatz widmet sich den Flurnamen zu „Bergen“ und „Warfen“ in Ostfriesland. Er stammt von Cornelia Ibbeken, langjährige Leiterin der Arbeitsgruppe „Flurnamendeutung“ der Ostfriesischen Landschaft, und Reinold Joosten (Karten).

Wie in jedem Jahr wird neue Literatur vorgestellt, es gibt eine ostfriesische Fundchronik sowie Jahresberichte der Landschaft und von 1820dieKUNST. Ein Nachruf widmet sich Professor Dr. Heinrich Schmidt, der am 27. Juni 2022 starb.

► Das Jahrbuch wird herausgegeben von der Ostfriesischen Landschaft, der Gerhard ten Doornkaat Koolman-Stiftung, der Gesellschaft für bildende Kunst und vaterländische Altertümer, der Johannes a Lasco Bibliothek und dem Niedersächsischen Landesarchiv Abteilung Aurich. Redigiert und lektoriert wurden die Texte von Dr. Michael Hermann, Dr. Paul Weßels und Dr. Regina Grünert.

► Emder Jahrbuch, 260 Seiten, Auflage 1000 Stück, es kostet 30 Euro und ist über den Buchhandel oder bei der Ostfriesischen Landschaft zu beziehen.

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