Geschichte eines mörderischen Krieges
Serie: Verborgene Schätze der Johannes a Lasco Bibliothek, Teil 3
Von Michael Weichenhan
Emden. „Damals plagten die Menschen keine gewöhnlichen Krankheiten, war aber jemand bereits erkrankt, endete das in der Seuche. Die einen starben an Vernachlässigung, die anderen bei bester Pflege. Man fand kein Heilmittel, das man zur Abhilfe hätte einsetzen müssen. Was dem einen nutzte, schadete dem andern. Kein Körper erwies sich auf Grund von kräftiger oder schwacher Konstitution als immun, sondern alle raffte sie die Seuche hinweg, auch die, die vollkommen gesund gelebt hatten. Das Schrecklichste an dem Übel war die Mutlosigkeit. Denn sobald man sich krank fühlte, überkam einen die Hoffnungslosigkeit, man vernachlässigte sich und leistete keinen Widerstand mehr. Hinzu kam noch, dass sie einander bei der Pflege ansteckten und wie Schafe dahinstarben. Daher rührte das große Sterben. Denn mieden sie einander voller Angst, gingen sie vereinsamt zu Grunde […], die aber zu Besuch gingen, verdarben selbst – gerade die, die Charakter zeigten. Denn sie hätten sich geschämt, sich zu schonen. Sie besuchten ihre Freunde, wurden doch selbst die Verwandten, überwältigt von all dem Unglück, des Jammerns der Sterbenden müde.“
So beschrieb der griechische Historiker Thukydides (circa 460 bis circa 400 vor Christus) die Wirkungen einer Seuche, die wir – unzutreffend – als „Pest“ bezeichnen: es könnte sich um eine Überlagerung von Fleckfieber und Pocken gehandelt haben. Er selbst hatte die Seuche 430 vor Christus in Athen überlebt.
Mit zwei Ausgaben der „Geschichte des Peloponnesischen Krieges“ von Thukydides, aus der der zitierte Text stammt, setzen wir die Reihe fort, in der Schätze der Johannes a Lasco-Bibliothek vorgestellt werden. Die eine, die Edition des griechischen Textes von Joachim Camerarius d.Ä. (1500 bis 1574), einem engen Freund Philipp Melanchthons, erschien 1540 in Basel. Sie zählt zu den Meilensteinen der philologischen Arbeit am überlieferten Text des Thukydides
Eine Ausgabe für Spezialisten: Sie bietet den griechischen Text ohne Übersetzung, aber auch zahlreiche antike Materialien. Sprachliche Erklärungen und eine Abhandlung, die von einem gewissen Markellinos stammt, entstanden in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts nach Christus. Er versuchte, die spärlichen biographischen Angaben, die Thukydides selbst in seinem Werk hinterlassen hat, zu ergänzen und analysierte dessen Werk unter stilistischen Gesichtspunkten.
Die andere Ausgabe wendet sich an eine breitere Leserschaft: Den Text hatte der italienische Humanist Lorenzo Valla (um 1405 bis 1457) im Auftrag von Papst Nicolaus V. ins Lateinische übersetzt. Fertiggestellt wurde sie bereits 1452, aber bis zur Drucklegung vergingen noch mehr als 60 Jahre: Der erste lateinische Thukydides erschien 1513 in Paris unter dem Titel „De bello Peloponnensium Atheniensium libri VIII“ (Acht Bücher über den Krieg der Peloponnesier und Athener). Vallas Übersetzung lag auch der Fassung zu Grunde, die unsere Ausgabe bietet, allerdings in einer Bearbeitung durch Conrad Heresbach (1496 bis 1576). Sie erschien zuerst 1527 und danach 1543 in Köln.
Vermutlich in seiner Heimatstadt Köln hat ein Exemplar dieser Ausgabe derjenige gekauft, aus dessen Besitz unser Band stammt: Petrus Medmann (1507 bis 1584). Dieser sympathisierte seit einem Studium der Freien Künste an der Wittenberger Universität mit der protestantischen Bewegung. In der aufgeheizten Stimmung am Ende der 1540er Jahre bereitete das in Köln erhebliche Probleme. Medmann verließ 1548 die stolze Domstadt und siedelte nach Emden über, wo er sich verheiratete und 1553 zum Bürgermeister gewählt wurde. Das Amt verwaltete er offenbar zur allgemeinen Zufriedenheit. Er bekleidete es bis zu seinem Tode, und das waren immerhin 31 Jahre.
Petrus Medmann ist bis heute in Emden kein Unbekannter: Die Medmannstraße erinnert an ihn, und wer sich in der Emder Geschichte auskennt, der weiß, dass das einst so prächtige Rathaus (Erbauungszeit 1574 bis 1576) in der Zeit erbaut wurde, als der gebürtige Kölner dort amtierte. Medmann hat die Ausgabe des Thukydides nicht nur besessen, er hat in ihr gelesen, und zwar aufmerksam. Die Lektüren hinterließen Spuren in Form von Anstreichungen und Randbemerkungen, die von seiner Hand stammen.
Thukydides war Zeitzeuge in hohem militärischem Rang und Historiker des Peloponnesischen Krieges, einer knapp 30 Jahre dauernden Auseinandersetzung zwischen Athen und Sparta, in die fast der gesamte griechische Kulturraum hineingezogen wurde und die 404 vor Christus mit einer katastrophalen Niederlage Athens endete. Mit Thukydides beginnt die kritische, der historischen Wahrheit und der Erkenntnis verpflichtete Geschichtsschreibung. Gänzlich unbescheiden beanspruchte er, man könne aus seiner Darstellung etwas lernen: „Die das, was bereits geschehen ist, genau erforschen wollen und damit auch das, was der menschlichen Natur entsprechend künftig so oder ähnlich wieder eintreten wird, werden mein Werk für nützlich halten. Das soll mir genügen. Es ist eher geschrieben zum Besitz auf immer denn als Prunkstück zum einmaligen Hören.“
Thukydides hat Recht behalten: seine acht Bücher, die den mörderischen Krieg zwischen den beiden rivalisierenden Mächten behandeln, sind zum dauerhaften Besitz geworden, nicht nur für Historiker, sondern für Philosophen, Politologen, Politiker, Strategen, überhaupt für alle Interessierten. Bis heute gilt es geradezu als Gesetz, dass der Aufstieg einer neuen Macht – eine solche war damals das demokratische Athen – eine etablierte Großmacht in Furcht versetzt und die Spannungen sich in einem Krieg entladen. Kein Wunder also, wenn heute die Konflikte zwischen China und den USA in diesem Licht gedeutet werden.
Kühl und illusionslos analysierte Thukydides, welche Veränderungen Ereignisse wie ein Krieg oder der Ausbruch einer Seuche bei Menschen herbeiführen, die gerade noch stolze und selbstbewusste Bürger eines demokratischen Gemeinwesens waren. Als „Schule für ganz Griechenland“ hatte es der führende Politiker Athens, Perikles, in einer Rede gepriesen, weil in ihm der Bürger (damals zählten tatsächlich nur Männer als Bürger!) „seine Person auf die vielfältigste Weise, anmutig, gewandt und selbstbestimmt entfaltet“. Unmittelbar an diese Rede schließt Thukydides die Beschreibung jener Seuche an, die nicht nur zu massenhaftem Sterben, sondern auch zum Verlust von Anstand und Sitte führte: „nicht Furcht vor den Göttern und menschliches Gesetz“ hielten die Menschen noch in Schranken. Das Übermaß der Schrecken und die beständige Angst ließen die Menschen abstumpfen, Anmut verkehrte sich in Skrupellosigkeit, Selbstbestimmtheit in Furcht, und am Ende hatten Krankheit und Krieg die Demokratie in Athen ruiniert.
Wer sich heute, auf den Spuren Petrus Medmanns und ungezählter anderer, in diesen „Besitz auf immer“ vertiefen und sich über vergangene Ereignisse, vor allem aber über die unveränderte Natur des Menschen unterrichten lassen möchte, um die Mechanismen von Macht und Herrschaft zu verstehen, aber auch die oft vergeblichen Versuche, Probleme zu lösen und Konflikte zu entschärfen, der kann Thukydides’ Werk in deutscher Sprache lesen. Einmal in der vorzüglichen Übersetzung des gesamten Textes, die der Schweizer Altphilologe Georg Peter Landmann bereits 1960 vorgelegt hat – sie vermittelt etwas von dem dunklen „Sound“ des Originals. Wer mit einer (ebenfalls knapp kommentierten) klug getroffenen Auswahl zufrieden ist, greife zu der im Reclam-Verlag erschienenen Übersetzung, die Helmuth Vretska angefertigt hat. Und schließlich ist seit 2017 eine neue zweisprachige Ausgabe auf dem Markt, die von dem Rostocker Altphilologen Michael Weißenberger stammt.
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Der Autor ist Wissenschaftshistoriker und Theologe. Nach dem Studium der evangelischen Theologie, Philosophie, klassischen Philologie und der Geschichte der exakten Wissenschaften in Berlin und Hamburg promovierte Dr. Michael Weichenhan 2002 über die „Supernova des Jahres 1572 und die Überwindung der aristotelischen Kosmologie“. In den Jahren danach arbeitete er an den Universitäten in Berlin, Frankfurt / Main und Darmstadt. Seit 2019 ist Weichenhan in Emden als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Johannes a Lasco Bibliothek mit dem Editionsprojekt „Zwischen Theologie, frühmoderner Naturwissenschaft und politischer Korrespondenz: Die sozinianischen Briefwechsel“ betraut.