Ergreifende ästhetische Vergnügungen
„Strandwanderung“ ist eine Ausstellung mit Arbeiten von Ruth Schmidt Stockhausen im Bademuseum auf Norderney. Sie würdigt den 100. Geburtstag der gebürtigen Ostfriesin und ist bis zum 23. September zu sehen. Frau Schmidt Stockhausen zählte zu den wenigen Vertreterinnen des Informel und zu den bemerkenswertesten Malerinnen der Region. Daher wird der Eröffnungsvortrag – als Erinnerung an sie – hier in Auszügen wiedergegeben.
Von Dr. Annette Kanzenbach
Norderney. Die 1922 auf Norderney geborene Malerin, Graphikerin und Bildhauerin Ruth Schmidt Stockhausen war vielfältig künstlerisch tätig – dieses Nebeneinander wird in der Ausstellung sehr schön deutlich – gleichwohl es darin nur um einen ihrer Motivkreise geht: um Eindrücke, wie sie die Künstlerin an der Nordseeküste gestaltete. Die künstlerische Umsetzung ist zupackend und zeitlos, die Ausdruckskraft unmittelbar berührend – das gilt auch für die hier ausgestellten Arbeiten.
Der größte Teil der gezeigten Werke entstand ab den 1980er Jahren, also nach ihrer Rückkehr nach Ostfriesland 1983. Da erwarteten sie noch einmal 30 intensive und produktive Schaffensjahre in großen Räumen eines ehemaligen Gulfhofes in Westdorf bei Dornum. Hinzugeordnet sind einige ältere Arbeiten, um etwas von ihren genauso beeindruckenden frühen Gestaltungsweisen sehen zu lassen. Insgesamt sind hier knapp 90 Gemälde, Zeichnungen und Plastiken versammelt.
Dazu kommen Gedichte, die – zumindest in dieser Breite – erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt sind. Eigentlich muss es nicht überraschen, dass sie auch in der Lyrik eine ihr willkommene Kunstsprache fand.
Lyrik – so liest man im Oxford Wörterbuch – ist eine literarische Gattung, in der subjektives Erleben, Gefühle, Stimmungen und Gedanken mit formalen Mitteln (wie Reim und Rhythmus) ausgedrückt werden. – Genauso könnte man auch ihre Bildschöpfungen beschreiben. Und auch bei ihren Gedichten zeigt sich Ruth Schmidt Stockhausen als Formgeberin, als Gestalterin, etwa darin, ihnen durch ungewöhnliche Zeilenumbrüche und äußerste sprachliche Reduktion eine spezifische Form zu geben.
Schimmerndes Licht
Behutsam trägt
die junge Welle
Muscheln an den Strand,
küsst weich meine Füße
und fließt zurück .–
Wie zärtlich bist Du heute
Die präsentierten Kunstwerke rufen Erlebniswelten an der Nordseeküste auf. Dabei zeigen die Arbeiten mal mehr und mal weniger Nähe zur sichtbaren Wirklichkeit. Je nachdem, was das darzustellende Motiv brauchte, entschied – oder wählte sie intuitiv – die passende Wiedergabe zwischen Formauflösung und Formverdichtung – und auch, was es sonst noch brauchte – an zugespitzter, oder auch spielerischer Verfremdung. Formauflösung und Formverdichtung – das sind zwei dynamische Begriffe, die ein der Abstraktion zugewandtes Kompositionsprinzip der Nachkriegszeit beschreiben, das Informel.
Eine spezielle Richtung des Informel wird als Lyrische Abstraktion beschrieben, und ich denke, es ist nicht schwer zu sehen, dass damit auch das hier präsentierte Schaffen von Ruth Schmidt Stockhausen sehr treffend charakterisiert ist. Sie blieb dieser ihr gemäßen Kunstsprache treu – und ihre bis zum Schluss kraftvollen Kunstwerke bestätigen, dass dies für sie die richtige Entscheidung war. Man kann nicht sehen, dass bei ihr irgendwann wiederholende Routine einkehrte. Das sicherlich auch nicht, weil sie immer neu vom Naturerlebnis ausging. Das konnte sie sich von der Beobachtung des weiten Wolkenhimmels holen – ebenso wie von einem Buhnenholz, einem Wellensaum oder der unspektakulärsten Ecke im Garten wie zerbröselnden Ziegelsteinen oder einem rostigen Geländer am Haus.
Ihre Naturerlebnisse, die sich aus Gesehenem, Gefühltem, Erinnertem, aus Erkanntem und geheimnisvoll Bleibendem zusammensetzten, übertrug sie in ästhetische Bilder. Und es gelang ihr, oder besser: es gelingt ihr – durch eine überindividuell verständliche Gestaltung, so dass wir daran teilhaben können. Sie macht uns ihr Erlebnis anschaulich, ist dabei aber nicht bevormundend, sondern sie lässt dem Betrachter Raum, um eigene Seherfahrungen zu integrieren, und Offenheit, um mit der Erinnerung an das Kunstwerk die Natur fortan vielleicht intensiver zu erleben. Mit anderen Worten: Die Bilder erreichen uns und besitzen ‚Nachhaltigkeit‘.
Die Qualität der Dialoge – zwischen Künstlern und Bildern, zwischen Bildern und Betrachtern – ist für mich fundamental für die Beurteilung eines Kunstwerks. Im schönsten Fall entspannt sich ein nie endender Dialog, was ein vielschichtiges Kunstwerk ebenso wie einen sensiblen Betrachter – und Zeit miteinander – benötigt. Diese Dialoge können durchaus unkonkret bleiben, wie es Bildtitel wie „Kontemplation“ und „Stille“ vorschlagen. Die von Ruth Schmidt Stockhausen vergebenen Bildtitel legen Spuren, die das gestaltete Bild intensiver als ohne diese Hinweise erleben lassen, da sie die eigenen Assoziationen lenken.
Ich bin dafür als Betrachter sehr dankbar, zumal die Titel ganz zurückhaltend sind. Gleichwohl war für sie das Kunstwerk auch ohne diese Hinweise fertig. Das wirklichkeitsnahe Urbild ist durchaus in zahlreichen Werken noch zu spüren – vor allem aus der Distanz, wenn man die Komposition als Ganzes vor Augen hat. Da sind zum Beispiel Landschaftseindrücke vom Strand und vom Wattenmeer. Die Norderneyerin verbildlicht diese Welt mit Erlebnissen von Sturm, von untergehender Sonne, von verunklärendem Nebel. Höchst eindrucksvoll finde ich die „Priele in der Dämmerung“ (1983), für deren äußerlich harmlose, aber – jetzt wörtlich genommen – fundamentale Kraft – die Künstlerin eine wunderbare bildliche Übersetzung gefunden hat. Eine spielerische Note dagegen akzentuiert das „Ablaufende Wasser“.
Ruth Schmidt Stockhausens Schöpfungen machen zweifellos deutlich, dass das flache weite Wattenmeer, das mancher Fremde bei seinen ersten Begegnungen als monoton und langweilig beschreibt, bei näherer „Bekanntschaft“ eine unendliche Vielfalt birgt. Vielfalt, in dem was dort in ständiger Bewegung und Verborgenheit lebt. Und Vielfalt in dem, was das Wetter durch seine stets unstete Erscheinung enthüllt. Und noch mehr …
Ruth Schmidt Stockhausen nutzt eine breite Palette gestalterischer Mittel. Sie offenbart sich darin als ein neugieriger und experimentierfreudiger Mensch, der die technischen Möglichkeiten immer wieder neu auslotet. Am Ende kann man oft nur noch treffend von „Mischtechnik“ reden. Die Künstlerin verwendete Ölfarben, Acrylfarben, Wandfarben, Temperafarben, Pastellkreiden und mischte auch Silber bei. Sie arbeitete mit übereinandergelegten, teilweise auch wieder abgenommenen, opaken und transparenten Farbschichten, die verdichten wie verwischen. Manchmal werden sie partiell durch aufgetröpfelte Lösungen angelöst.
Sie fügte externe Materialien hinzu: Sand, den sie einmischte, Gips, den sie auf die noch unbemalte Malfläche auflegte, es konnten aber auch Papier oder Stoff sein, mit denen sie zugleich Strukturen hinzufügte. Mit diesen Mitteln erzielte sie Reliefs, die neue Licht- und Schattenwirkungen hinzufügten. Das klingt sehr kompliziert, und doch erscheint die technische Ausführung nicht aufgetragen oder gar effektsuchend bemüht. Im Gegenteil: Ihre Arbeiten strahlen in ihrer künstlerischen Umsetzung etwas von Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit aus. – So wie die Künstlerin selbst, der ich im hohen Alter noch ein paar Mal begegnen durfte.
Ruth Schmidt Stockhausen malte auf Papier, auf Hartfaserplatten und auf Leinwand. Sie nutzte das malerische Druckverfahren der Monotypie, das dem Zufall viel Raum gibt. Ihre „malerische Gelassenheit“ zeichnet auch so manches sparsame und doch technisch perfekte Aquarell aus, das es bei ihr genauso gibt wie traditionelle Zeichnungen, die mit wenigen treffsicheren Strichen alles Wichtige mitteilen. Dass sich die Künstlerin auf die genau abbildende Wiedergabe verstand, führen die hier ausgestellten gezeichneten Bildnisse vor Augen ebenso wie die zahlreichen kleinen Detailstudien unterschiedlichster „Entdeckungen“ am Strand und im Watt.
Ausgestellt sind auch kleine Plastiken, gefertigt aus Plastik- oder Gipsmasse, eine auch in Bronze gegossen. Viele der kleinen Arbeiten scheinen nah an der Realität zu sein – denkt man zumindest im ersten Moment. Schaut man genauer hin, so zeigen sie sich – zumindest für mich – als liebevolle, phantasievolle Interpretationen der Tierwelt. So zeigen am Ende auch diese kleinen Figuren, was die Künstlerin interessierte: Die erfahrbare Wirklichkeit war ihr Anliegen, aber das, was sie davon festhalten wollte, ging weit über das wirklichkeitsorientierte Abbild hinaus ins Grundsätzliche.
Sie wirft mit ihren Darstellungen der veränderlichen, großen und kleinen Welt existenzielle Fragen auf, Fragen nach Werden und Vergehen, nach der Komplexität der Welt, der man sich nur in kleinen Schritten nähern kann. Sie verbildlicht diese Fragen mit einer feinsinnigen, präzisen Kunstsprache, – mit einem intensiven Zusammenspiel aus Farben und Formen, aus Strukturen und Rhythmen entwickelt, – ein Zusammenspiel, das poetische, musikalische, lyrische, auch dramatische Qualitäten entwickelt.
Und so sind ihre Schöpfungen zunächst einmal und ohne alle Belehrungen, ergreifende ästhetische Vergnügungen, die uns immer auch Freude bereiten sollen und können.
Ruth Schmidt Stockhausen
– 4. April 1922 geboren auf Norderney
– 1941 Beendigung ihrer Ausbildung als Werklehrerin
– 1944 Stipendium des Deutschen Begabten-Förderwerkes
– künstlerische Ausbildung bei dem Maler HW Berger und dem Bildhauer Albert Kranz im Atelier Schloss
Heudorf bei Riedlingen
– seit 1946 umfangreiche Ausstellungstätigkeit im In- und Ausland
– 1976 bis 1979 Lehrauftrag für freie Malerei an der Kunstschule Westend in Frankfurt / Main
– 1983 Umzug nach Westdorf bei Dornum
– 22. Dezember 2014 gestorben in Dornum