Hohes dramatisches Potenzial
Das 39. und letzte Konzert der diesjährigen Gezeiten fand auf dem Polderhof in Bunderhee statt
Bunderhee. Mit einem höchst anspruchsvollen Programm endete am Sonntag (7. August) das diesjährige Gezeiten-Festival auf dem Polderhof in Bunderhee. Die Junge Norddeutsche Philharmonie spielte vor rund 1300 Menschen unter Leitung von Felix Mildenberger Kompositionen des 20. Jahrhunderts von Schostakowitsch, Mahler und Ravel.
Das Programm setzte quasi fort, was am Abend zuvor in der Johannes a Lasco Bibliothek beeindruckte, als Violinist Christian Tetzlaff die Konzertbesucher an Abgründe des menschlichen Lebens heranführte. Nun ging es weiter – weniger spirituell, dafür mit hohem dramatischen Potenzial.
Am Anfang stand allerdings die Renaissance. Denn das Schlusskonzert begann mit einer Canzone für Bläser von Giovanni Gabrieli von 1597 – venezianische Musik, festlich und feierlich aus einer geistlichen Sinfonie des seinerzeit als avantgardistisch geltenden Komponisten. Eigentlich hatte man sich auf Lili Boulangers „D’un matin de printemps“ gefreut. Das Werk ließ sich nicht realisieren, weil auch das Jugendorchester von Corona betroffen war. Doch die Eröffnung durch die Bläser hatte einen eigenen Reiz und bot ein stilvolles Tor in ein Konzert der Extravaganz.
Schostakowitsch‘ 1. Cello-Konzert brachte den Cellisten Valentin Radutiu auf das Podium im Polderhof. Zwischen Melancholie und heftigen Ausbrüchen bewegte sich die Opus 107 des Russen – und bot damit dem Orchester wie dem Solisten Radutiu ein breites Feld an Möglichkeiten zu virtuosem Spiel, blendender Technik und ausdrucksstarker Gestaltung, die sich bewähren konnte an der Kraft der Komposition. Dem Solisten allein war der dritte Satz, Cadenza, vorbehalten und hier zeigte sich besonders die eindringliche Wirkung, in der das Cello sich ausleben konnte – bis dann zum Schluss ein energiegeladener vierter Satz das Stück endet.
Nach der Pause stand Mahlers unvollendete Sinfonie Nr. 10, Fis-Dur auf dem Programm, von dem der erste Satz „Adagio“ erklang – ein zeitlich ausuferndes Gebilde, in dem die weiten Melodiebögen aufgefangen werden, ehe es in expressiver Dynamik endet. Ein souverän dirigierender Felx Mildenberger steuerte das Riesenorchester mit Ruhe überlegen durch die Klippen dieses Abgesangs auf Liebe und Tod.
Am Ende des Programms stand der „Boléro“ von Ravel. Man wird verzeihen, dass dieser monotone Gesang, dessen Rhythmus von der Kleinen Trommel durchgängig markiert wird, ganz automatisch die Bilder des dramatischen Eistanzes von Jayne Torvill und Christopher Dean vor Augen erstehen ließ, die damit 1984 den Olympia-Sieg errangen. Es ist im Grunde ein Variationenwerk, in dessen Fortlauf die verschiedensten Instrumente eine Solo-Funktion übernehmen. Es war bewundernswert zu erleben, mit welcher Konsequenz die Musik auf einen Höhepunkt hin aufgebaut wurde, den der künstlerische Leiter der Gezeitenkonzerte, Pianist Matthias Kirschnereit, so in Beziehung zum Festival setzte: „Der Boléro endet mit einem Höhepunkt, bei den Gezeiten geht es nach dem Höhepunkt weiter.“
Mit diesem Musikstück entlud sich die während des Konzertes aufgebaut Spannung in einem berauschenden Schlussapplaus. Er war der letzte einer langen Reihe, in der insgesamt 39 Konzerte acht Wochen lang um die Gunst des Publikums gewetteifert hatten.