Große Emotionen, starke Gesten

Emden. Fast zweieinhalb Stunden lang herrscht nahezu atemlose Stille in der Neuen Kirche. Dort feierte das Theaterstück „Melanie Schulte“ Premiere vor voll besetztem Haus. Geschrieben von einer Museumspädagogin, gespielt von einem qualitätvollen Amateur-Ensemble, inszeniert von einem Pädagogen – eine Melange, die zu einem erstaunlichen Ergebnis führte.

Großprojektion: die „Melanie Schulte“ unterwegs

Die Spieler waren exakt vorbereitet, die Texte saßen, die Auftritte der einzelnen Spieler oder Spielergruppen folgten einer Choreographie, die genauestens durchgeplant war, das Licht stimmte, die Einspielungen auf eine Großleinwand, die gelesenen Wortbeiträge, die Geräusche wurden präzise eingesetzt. Heraus kam ein beeindruckendes theatrales Werk, dass zwischen faktenbasierter Gerichtsverhandung und emotionalen Einblicken in die Gefühlswelt der Angehörigen hin- und herzappte und somit ein dichtes Geflecht aufbaute, das mit dem erschütternden abschließenden Urteil der Seeamtsverhandlung – „Höhere Gewalt“ – durchaus kein Ende fand.

Schreibt einen Brief an ihren Mann: Anika Camp als Anni Balzersen

Dieses wurde erreicht, als die Namen der 35 verstorbenen Seeleute verlesen werden, was Regisseur Werner Zwarte selber vornimmt, während eine trauernde Mutter mit der Hand über die Trümmerreste der „Melanie Schulte“ streicht und sich hinter ihr auf der Leinwand eine stürmische See ausbreitet. Und als dann noch der Sohn eines der ertrunkenen Seeleute seinen Teddy, ein Geschenk des Vaters, bei den letzten Resten eines einst stolzen Schiffes niederlegt und somit symbolisch seiner Kindheit entsagt, da ist diese Geste so stark, dass man als Besucher mit den eigenen Emotionen gut zu tun hat.

Für Zwarte ist diese Inszenierung wohl der Höhepunkt seiner durchaus ereignisreichen und an schönen und eindrucksvollen Momenten reichen Regie-Karriere – man erinnere sich nur an seine „Anne Frank“, die vor Jahren auch in Amsterdam für Furore sorgte. Bei diesem Seefahrer-Drama aber wird all seine Erfahrung und Leidenschaft spürbar. Mit scheinbar leichter Hand leitet er die 35 Spielerinnen und Spieler, die förmlich über sich hinauswachsen, durch das Stück, erzeugt auf der engen Bühne der Neuen Kirche mit schlichtesten Mitteln eine dichte Atmosphäre, in welcher sich Hoffnung und Tragik abzeichnen, und schafft mit wenigen Bildern der im Wiederaufbau befindlichen Stadt Emden und des Schiffes ein Gefühl für die 50er Jahre.

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Doch das alles funktioniert nur, weil Ilse Frerichs – nicht zum ersten Mal – ein Textbuch erarbeitet hat, das passgenau um ein Thema kreist und dieses facettenreich funkeln lässt. Ihre Vorlage lehnt sich zwar eng an das Protokoll der Seeamtsverhandlung an, greift aber sehr einfühlsam die emotionale Welt der Daheimgebliebenen auf. Selbst den drei Vorsitzenden und Beisitzern der Verhandlung wird – trotz aller Nüchternheit der Sprache – deutlich, wie ungeheuerlich das Geschehen um „Melanie Schulte“ im Grunde ist.

Die Phantasie der Besucher wird allerdings durch viele Aspekte der Inszenierung in Bewegung gebracht, etwa durch die Parallelgeschichten, die sich auf den Seitenbühnen links und rechts der zentralen Seeamtsverhandlung oder auch auf den Emporen abspielen: die trauernde Familie Freerks mit der im Schmerz erstarrten Mutter, die verzweifete Braut, die das tröstliche Gedicht „Für einen“ von Mascha Kaléko rezitiert, die Seeleute an Bord, die hoffnungsvoll dem Weihnachtsfest entgegensehen, und nicht zuletzt auch die „Zuschauer“ des Stapellaufs, die hören, dass – nach der Zerstörung Emdens – nun Schiffe „als Denkmäler der Gegenwart und der Zukunft“ eintreten werden. Und dann dieses Ende des stolzen Mehrzweckfrachters „Melanie Schulte“ …

Die Seeamtsverhandlung: Peter Bruns, Werner Telschow und Hans Albe

So bleibt die Stille im Raum bis zum Schluss des als Einakter konzipierten Stückes bestehen, um sich dann in einem langen Applaus Luft zu machen. Fazit: Ein Abend voller Spannung, der zeigte, welche Kreativität und Begeisterungsfähigkeit in dieser Region stecken. Man kann eigentlich nur wünschen, dass diese Gruppe unter Leitung von Werner Zwarte nach den Texten von Ilse Frerichs weitermacht.

Auf die Leinwand projiziert: die Funkerbude der „Melanie Schulte“
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