Farbexplosionen und Porträts mit Tiefgang

Emden. „Die benötigt kein Ausrufezeichen“, sagt Ilka Erdwiens, Sprecherin der Kunsthalle Emden, und ihr Blick wandert über das 1936 datierte „Selbstbildnis mit Schlüssel“ von Ottilie W. Roederstein (1859 bis 1937). Die Malerin bildet sich als alte Frau ab. Das Haar erscheint grau unter dem Hut, der – ebenso wie die Kleidung – männlich wirkt. Das Faszinierende aber sind die Augen. Sie taxieren den Betrachter ganz unverhohlen. Der Blick vereint Lebenserfahrung, Ernüchterung, Skeptizismus, vielleicht Verbitterung, Abschätzung, Wissensdurst. Ist das die Quintessenz ihres Lebens? Die Frage bleibt unbeantwortet, aber die Intensität der Darstellung zwingt dazu, immer wieder hinzusehen. Was schließt die Malerin mit dem Schlüssel auf oder zu? Ist es ein Symbol mit christlichem Hintergrund? Oder hat sie womöglich mit ihrem Leben als Künstlerin „abgeschlossen“?

Eine selbstbewusste Frau: Detail aus dem Selbstbildnis der Ottilie W. Roederstein

Die Kunsthalle hat zwei gleichermaßen ungewöhnliche Ausstellungen zusammengefügt. Die eine – „Hier bin ich!“ (mit Ausrufezeichen) – wendet sich den Selbstbildnissen von Künstlerinnen zu. Sie zeigt etwa 80 Beispiele der Gattung von 30 Künstlerinnen aus 120 Jahren. Die andere – „Jenseits der Leere“ – ist der Malerei gewidmet und präsentiert den seit zwei Jahren in Großheide lebenden und arbeitenden Künstler Jan Pleitner, der farbstrotzende Gemälde gerne in großen Formaten auf die Leinwand bringt. Beide Ausstellungsformate markieren strukturelle Veränderungen in der Kunsthalle.

Im Fall der Selbstporträts geht es um die stärkere Betonung von Kunst, die von Frauen geschaffen wurde. Denn da bestünde – auch in der Sammlung der Kunsthalle – Nachholbedarf, sagte die wissenschaftliche Leiterin des Hauses, Lisa Felicitas Mattheis. Das Geschlechterverhältnis liege in Emden bei 10 zu 90 Prozent. Jan Pleitners Bilder markieren den Einstieg in eine weitere Ausstellungslinie. Das Atrium soll künftig der Raum konzentriert dargebotener Malerei sein. Das begann im letzten Jahr schon mit den reduzierten Arbeiten von Jenny Brosinski. Pleitner indes geht weiter. Er hat eigens für das Atrium das größte, bisher in der Kunsthalle ausgestellte Werk geschaffen, fast 7,5 Meter breit und weit über drei Meter hoch.

Farbkräftiges Großbild: Jan Pleitner (ganz rechts) erläutert seine Arbeit

Als er die Leinwand bestellte, habe er die räumlichen Verhältnisse in der Kunsthalle noch gar nicht gekannt, berichtet Pleitner im Gespräch mit Kultur-in-Emden. Wunderbarerweise passte schließlich alles zusammen: im Lastwagen fand das Bild in seiner ganzen Größe um Haaresbreite Platz, es passte auch durch die Türen der Kunsthalle – und schließlich auf die große Stirnwand direkt unter jenen Fenstern im Shed-Dach, die sich dem weiten ostfriesischen Himmel öffnen.

Weiteres Detail aus dem Selbstbildnis von Ottilie Roederstein: die rechte Hand mit den Schlüsseln

Der junge Künstler, der vor drei Tagen Vater eines Sohnes geworden ist, hat aber auch den Boden des Attriums in seine Planung mit einbezogen. Den anthrazitfarbenen Untergrund belegte es mit orangfarbenen Linien, die perspektivisch so angelegt sind, dass sie sich an einem Punkt weit außerhalb der Ausstellungsräume treffen. Dadurch gerät der Raum leicht ins Schwanken, schafft einen Hauch von Verunsicherung. Eine andere Welt habe er kreiieren wollen, sagt Pleitner, eine Welt, in der man versinken könne. Seine Bilder öffnen den Weg dorthin, meinte die Kuratorin.

Pleitner plane seine Gemälde nicht, sondern wähle einen anderen Weg. Er entwickle sein Bild während des Malprozesses. Seine Methode dabei: ein Farbauftrag, der relativ dünn ist, der dann aber verwischt wird, mittels einer Latte, mit der Hand oder mit Lappen. Die großen Gesten des Verwischen bleiben als Spuren auf der Leinwand.

Das Porträt von Ottilie Roederstein als Ganzes

Für das überdimensionale Bild wurde eigens eine Halle angemietet. „Mein Atelier ist zwar groß, aber dieses Format überstieg die Möglichkeiten.“ Das Aufziehen der Leinwand sei schon eine Herausforderung gewesen, und für die Malerei selbst habe er von einer fahrbaren Podestleiter profitieren können, die die Kunsthalle zur Verfügung stellte.

Neben den Bildern im Atrium, das aufgrund der einheitlichen Gestaltung des Fußbodens und der im gleichen Ton gestrichenen Wände einen in sich geschlossenen Raum bilden, hat Pleitner eine Hinführung inszeniert. Auf dem Nannen-Platz vor der Kunsthalle ist ein Zeltdach installiert, das er von oben bemalte. Zudem gibt es eine große Fahne, die Lisa Felicitas Mattheis als „Piratenfahne der Malerei“ bezeichnet, und zum dritten steht schon im Foyer eine rechteckige Skulptur, die auch die farbenkräftige Handschrift des Malers zeigt und ins Atrium verweist.

► Eröffnet wird die Ausstellung am 6. Mai um 18 Uhr. Es sprechen: Professor Dr. Joachim Schachtner, Staatssekretär im Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur, Dr. Johannes Janssen, Stiftungsdirektor der Niedersächsischen Sparkassenstiftung, sowie die Kunsthallen-Vorstände Lisa Felicitas Mattheis und Michael Kühn.