Streiflichter der Aufklärung

Teil 3: Immanuel Kant: Der Weltbürger aus Königsberg

Immanuel Kant, Philosoph der Aufklärung, Professor der Logik und Metaphysik in Königsberg, wurde vor 300 Jahren geboren und starb vor 220 Jahren. KiE würdigt den Wissenschaftler mit einer Serie, die ihn selbst, aber auch Zeitgenossen in den Blick nimmt und die Epoche anhand ihrer Theorien, Aussagen und Beiträge vorstellt.
Der Autor ist Wissenschaftshistoriker und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Johannes a Lasco Bibliothek, auf deren Buchbestände diese Serie unter anderem Bezug nimmt.

Von DR. MICHAEL WEICHENHAN

Emden. Am 22. April jährt sich der Geburtstag des Philosophen Immanuel Kant zum 300. Male. Weltweit werden in diesem Jahr Kongresse veranstaltet, Reden gehalten, Schriften publiziert, in denen seiner Person und vor allem seines Werkes gedacht wird, das jenem vertieften und zuweilen als weltfremd verspotteten Denken, das man „Philosophieren“ nennt, das Tor zu einer neuen Welt geöffnet hat. Und auch die Johannes a Lasco-Bibliothek wird sich daran beteiligen und auf einer Tagung vom 17. bis 19. Oktober Verbindungen aufspüren, die von den Anfängen aufklärerischen Denkens bei den Sozinianern, einer kleinen und als ketzerisch verfemten Glaubensrichtung vor allem aus dem 17. und dem beginnenden 18. Jahrhundert, bis hin zu Kant reichen.

Johann Gottlieb Becker: Portrait Immanuel Kant 1768.
Das Portrait (60 x 46 cm) wurde lange Zeit verschollen geglaubt, befindet sich aber im Museum in Perm (https://permartmuseum.ru/exhibit/11842). Eine ausführliche Beschreibung findet sich in https://users.manchester.edu/facstaff/ssnaragon/kant/helps/Life/IconData.html

Über Kant ist so viel geschrieben worden, dass kein Menschenleben ausreicht, das zu lesen. Seit rund 200 Jahren steht im Grunde jeder im weiteren Sinne philosophische Gedanke in irgendeiner Beziehung zu Kant, denn er hat mehr als nur das Denken der Professoren für Philosophie bestimmt. Auch wer über Politik, Theologie, Literatur, Kunst oder Physik nachdenkt, bezieht sich früher oder später, kritisch oder zustimmend, auf seine Gedanken. Das war in seinem Sinne.

So trocken, abstrakt und zuweilen pedantisch manche seiner Bücher auch zunächst erscheinen mögen, so sollte Philosophie doch gerade keine bloße Gehirnakrobatik sein, nicht in den lebensfernen Wortgefechten der philosophischen Fakultäten verschwinden. Philosophie, übersetzt: Liebe zur Weisheit, sollte im Prinzip jeder Mensch treiben, weil es bedeutet, sich als Mensch, als mit Vernunft begabtes Lebewesen, ernst zu nehmen. Nicht einfach glauben, nicht einfach gehorchen, sondern sich seiner Vernunft bedienen: das war laut Kant das Motto der Aufklärung, und das war der Motor, der sein Denken antrieb.

Einen Einblick in sein philosophisches Denken, das ja Grund dafür ist, dass man sich auch noch heute, und zwar rund um den Globus, an ihn erinnert, werden wir in einem späteren Artikel dieser Reihe zu geben versuchen. Heute soll es eher um den Menschen Kant gehen.

Königsberg 1729 (https://wiki.genealogy.net/Datei:K%C3%B6nigsberg_1729.jpg). Public domain

Kant ist in Königsberg geboren und auch gestorben; seine Heimatstadt hat er nie weiter als etwa 80 Kilometer verlassen, bis in das Dorf Groß-Arnsdorf, das heute unter dem Namen Jarnołtowo zu Polen gehört, sowie das Dörfchen Judtschen, das heutige Wessjolowka in der russischen Exklave um das einstige Königsberg, das nunmehr Kaliningrad heißt. In beiden Orten war der junge Kant als Hauslehrer tätig gewesen. Das Pfarrhaus in Judtschen, in dem er untergebracht war, um die Söhne des Pfarrers zu unterrichten, ist für die Biographie Kants insofern von Bedeutung, als er hier eine revolutionäre Arbeit zur Kosmologie verfasste, die „Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels“, veröffentlicht 1755; seit 2018 befindet sich in dem Gebäude, einem Nachfolgebau aus dem 19. Jahrhundert, ein Kant-Museum.

Kants Auffassung, Sonnensysteme und ganze Galaxien würden aus Nebeln durch rein mechanische Kräfte entstehen, war im Grunde sensationell, und allein dieses Werk hätte genügt, ihm einen großen Namen in der Wissenschaftsgeschichte zu sichern. Leider geriet es in Vergessenheit und wurde erst lange nach seinem Tod gewürdigt, dann verbunden mit einer ähnlichen Theorie des Astronomen und Physikers Pierre Simon Laplace (1749 bis 1827); man spricht dann von der Kant-Laplaceschen-Theorie. Kant promovierte und habilitierte sich im selben Jahr, in dem auch die „Allgemeine Naturgeschichte“ publiziert wurde, letztere allerdings anonym. Kant wurde Privatdozent, erhielt aber trotz stetig wachsenden Ruhmes lange Zeit keine auskömmliche Stellung. Dennoch hat er Angebote auf Lehrstühle in Erlangen, Jena und Halle ausgeschlagen und blieb in Königsberg.

Wer so stark nicht nur in seiner Heimat verwurzelt, sondern ihr geradezu verhaftet ist, gerät leicht in den Verdacht, ein Hinterwäldler zu sein. Denn im 18. Jahrhundert waren Reisen und häufige Ortswechsel nicht nur bei Adligen, sondern auch unter Gelehrten keine Ausnahme. Vielleicht hat zu dieser Unlust des Verreisens beigetragen, dass Kant aus ärmlichen Verhältnissen stammte; die Eltern wurden nach ihrem Tod ohne geistlichen Beistand (der war zu kostspielig) in Armenbegräbnissen beerdigt: Kant war da 13 bzw. 22 Jahre alt. Mit dem für ihn typischen Ethos der Pflichterfüllung hat er sich zeitlebens um den finanziellen Unterhalt zwei seiner Schwestern bzw. später ihrer Nachkommen gekümmert, ohne allerdings für seine Geschwister und Verwandten besondere Zuneigung zu empfinden.

Königsberg 1809, Detail aus: Grundriss der Haupt und Residenz Stadt Königsberg […] im Jahr 1809. Gestochen von Paulus Schmidt in Berlin. (https://wiki.genealogy.net/Datei:K%C3%B6nigsberg1809.jpg).
Man sieht die Dominsel, „Kneiphof“, nördlich davon die Altstadt mit dem Schloss. Das Wohnhaus Kants befand sich in der Prinzessinstraße, nördlich vom Schloss gelegen, die später in Kant-Straße umbenannt wurde; hier rot markiert.

Ein Hinterwäldler war Kant nun allerdings ganz und gar nicht; wenn er beispielsweise über Geographie Vorlesungen hielt, waren auswärtige Zuhörer verblüfft über seine detaillierten Kenntnisse ihrer Heimat. Kant informierte sich über die Welt u.a. aus Büchern. In Königsberg hatte der Philosoph, der mit 31 Jahren die Lehrbefugnis an der Universität, aber erst 15 Jahre später (1770) endlich auf die Professur für Philosophie berufen wurde, eine Art Beobachtungsposten bezogen, von dem aus er weitgehend ungestört seinen Gedanken nachgehen, zugleich aber an Geschäften und Geschäftigkeiten der Welt betrachtend teilnehmen konnte.

Als ob er sich gegen den Vorwurf verteidigen wolle, den engen Kreis der Stadt Königsberg nie verlassen zu haben, hat er in seinem letzten Buch, einem Werk zur Lehre vom Menschen als eines frei handelnden Wesens, der „Anthropologie in pragmatischer Absicht“, zuerst 1798 veröffentlicht, Folgendes geäußert:

„Zu den Mitteln der Erweiterung der Anthropologie im Umfange gehört das Reisen; sei es auch nur das Lesen der Reisebeschreibungen. Man muß aber doch vorher zu Hause, durch Umgang mit seinen Stadt- und Landesgenossen, sich Menschenkenntnis erworben haben, wenn man wissen will, wonach man auswärts suchen solle, um sie im größeren Umfange zu erweitern. Ohne einen solchen Plan (der schon Menschenkenntnis voraussetzt) bleibt der Weltbürger in Ansehung seiner Anthropologie immer sehr eingeschränkt.“

Man kann aus diesen beiden Sätzen das ganze Programm seiner Philosophie erkennen: Gesichertes, wissenschaftliches Erkennen besteht im Zusammenspiel einer Tätigkeit, die in der erkennenden Person stattfindet, und dem Aufnehmen von Informationen. Bloßes Sammeln von Informationen ohne Plan, ohne zu wissen, wonach man eigentlich sucht, führt nicht zu Erkenntnis, sondern höchstens zu einer Aufhäufung von Kuriositäten. Um Menschen in anderen Kulturen, mit ihren spezifischen Gebräuchen, Ansichten und Überzeugungen, ihrer charakteristischen Lebensweise überhaupt erfassen zu können, muss man zu allererst wissen, was überhaupt den Menschen ausmacht. Und das lernt man an sich selbst, an und in der Umgebung, in der man aufwächst.

Menschenkenntnis ist Voraussetzung für Völkerkunde. Selbstbeobachtung, und zwar die kritische Beobachtung seiner selbst, die Einübung in den Gebrauch der Vernunft, geht der Erkenntnis des Anderen voran. Sei das Andere nun andere Lebensweisen oder die unbelebte Natur, die die Physik beschreibt, oder das Handeln, das die philosophische Ethik untersucht.

In der Anmerkung zu jener zitierten Stelle hat Kant seiner Heimatstadt Königsberg gleichsam ein Denkmal gesetzt: „Eine große Stadt, der Mittelpunkt eines Reichs, in welchem sich die Landeskollegia der Regierung desselben befinden, die eine Universität (zur Kultur der Wissenschaften) und dabei noch die Lage zum Seehandel hat, welche durch Flüsse aus dem Innern des Landes sowohl, als auch mit angrenzenden entlegenen Ländern von verschiedenen Sprachen und Sitten, einen Verkehr begünstigt, – eine solche Stadt, wie etwa Königsberg am Pregelflusse, kann schon für einen schicklichen Platz zu Erweiterung sowohl der Menschenkenntnis als auch der Weltkenntnis genommen werden; wo diese, auch ohne zu reisen, erworben werden kann.“

Kants Wohnhaus in der Prinzessinstraße von der Gartenseite. Stich aus dem 19. Jahrhundert. Das Haus wurde 1893 abgerissen

Königsberg war keine Provinzstadt im herabsetzenden Sinne des Wortes; die Stadt am Pregel hatte damals rund 50 000 Einwohner und rangierte damit kurz hinter Berlin, seit 1701 war sie Krönungsort der Kurfürsten von Brandenburg. Deren Ehrgeiz war mit der Kurwürde nicht zufriedengestellt; um sich König nennen zu können, musste man auf ein Territorium außerhalb der Grenzen des Reiches zurückgreifen, und das war das Herzogtum Preußen. Der Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. hatte seit seinem Machtantritt 1713 die städtische Selbstverwaltung in Königsberg weitgehend ausgeschaltet; die einst mächtigen Kaufleute wurden durch Juristen ersetzt, Weisungen aus Berlin vom neu geschaffenen Kriegs- und Domänenrat rigoros durchgesetzt, selbst wenn das den wirtschaftlichen Interessen der Handelsstadt zuwiderlief.

Der König, ein Mann von eisernem Fleiß, der besessen war von militärischer Stärke, hing zugleich dem Pietismus an, den er auch in Königsberg nach Kräften förderte. Kant ist in einem von pietistischer Frömmigkeit geprägten Elternhaus aufgewachsen, und obwohl er später nahezu alle überkommenen Auffassungen des Christentums abstreifte, hat er der elterlichen Erziehung in dankbarer Erinnerung behalten: eine stille Gelassenheit, die Unantastbarkeit der Moral und die innere Verpflichtung zur Arbeit an sich selbst dürften dort ihren Ursprung haben. An die strenge pietistische Erziehung auf dem Gymnasium hatte Kant hingegen alles andere als gute Erinnerungen, und für die Pietisten, die an der Universität das Sagen hatten, hegte er keine Sympathien. Die standen, wie andere Autoritäten, seinem Drang nach Freiheit und geistiger Unabhängigkeit im Wege.

Königsberg war also Sitz königlicher Behörden, die Stadt hatte sich von den wirtschaftlichen Schäden unter dem Soldatenkönig allmählich erholt und bildete nach wie vor einen Knotenpunkt des Ostseehandels. Kant verkehrte ungern mit seinen Kollegen, dafür um so lieber mit Reisenden, mit gebildeten Offizieren, Adligen, Kauf- und Geschäftsleuten oder Medizinern; seinen ausgeprägten Hang zu Gesprächen über Themen aller Art, solange sie nur nicht die Philosophie betrafen, haben zahlreiche Besucher immer wieder in Erstaunen versetzt.

Kant, lebenslang unverheiratet, liebte heitere Geselligkeit und legte Wert auf vornehme Kleidung. Die philosophischen Hauptwerke waren und sind in der Tat keine leichte Lektüre – in der Unterhaltung aber hat Kant weltmännisch geglänzt. Manche seiner kurzen Aufsätze lassen diese Geschmeidigkeit noch spüren. Bei seinen täglichen Mittagsgesellschaften, bei denen sich mindestens drei Personen, höchstens aber neun, zusammenfanden und die drei bis vier Stunden dauerten, hat sich der Königsberger zum Weltbürger gebildet und zu präsentieren gewusst.

Kant und seine Tischgenossen (Ausschnitt). Nach einem Gemälde von Emil Doerstling (1892). Das während des 2. Weltkrieges zerstörte Bild befand sich im Universitätsgebäude. Kant ist der 2. von links

Und schließlich war da noch die 1544 gegründete Universität, keine unbedeutende bereits am Anfang des 18. Jahrhunderts, aber es ist nicht übertrieben zu sagen, dass sie erst durch Kant eine einzigartige Strahlkraft erhielt.

Der kleingewachsene Professor hielt Vorlesungen nicht nur zur Philosophie im engeren Sinne, sondern auch über Mathematik, Physik, Geographie, ja sogar über Festungsarchitektur. Und seine lebhaften, mit Witz gewürzten Vorträge waren gut besucht. Nachdem Kant sich mit knapp 60 Jahren ein Haus am Schlossgraben hatte leisten können, wurden sie im Untergeschoss des Gebäudes abgehalten.

Insbesondere seit Veröffentlichung der „Kritik der reinen Vernunft“ im Jahre 1781 schlugen die Bücher Kants Wellen; der Schriftsteller Jean Paul (1763 bis 1825) schrieb im Juli 1788 an einen Freund: „Kaufen Sie um Himmels willen zwei Bücher: Kants Grundlegung zu einer Metaphysik der Sitten und Kants Kritik der praktischen Vernunft. Kant ist kein Licht der Welt, sondern ein strahlendes Sonnensystem auf einmal.“

Aber es gab auch Ablehnung, teilweise schroffe. Vom „Alleszermalmer“ war die Rede. Selbst in den Augen einiger aufgeklärter Geister war Kant bei seiner kritischen Bestandsaufnahme, was man denn nun eigentlich wissen könne und was nicht, zu weit gegangen. Dass der im gesamten deutschsprachigen Raum bekannte Philosoph mit einer neuen religiösen Unduldsamkeit unter Friedrich Wilhelm II. (preußischer König von 1786 bis 1797) in Konflikt geriet, hat, wie das bei derartigen Maßnahmen mitunter der Fall ist, dem Zensierten weniger als dem Zensor geschadet. Denn wie auch immer man zu dem Denker aus Königsberg stehen mochte: die philosophische Landschaft hatte er bereits in den 1780er Jahren verändert. Und zwar so nachhaltig, dass alle philosophisch denkenden Autoren, nicht nur seine Anhänger, sondern auch die Kritiker, selbst seine Gegner, sich an dem weltbürgerlichen Philosophen aus dem Osten Preußens orientieren und abarbeiten mussten.

Gestorben ist er am 12. Februar 1804. Zu dieser Zeit hatten Philosophen wie Johann Gottlieb Fichte (1762 bis 1814) und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775 bis 1854) längst damit begonnen, auf den von Kant gelegten Fundamenten geschlossene philosophische Systeme zu errichten.