Lehrbuch der geistigen Selbstverteidigung

Serie: Verborgene Schätze der Johannes a Lasco Bibliothek, Teil 2

Von Dr. Michael Weichenhan

Emden.
Manche Schätze der Johannes a Lasco-Bibliothek sind ganz unscheinbar. Sie fallen nicht ins Auge, und es macht schon ein wenig Mühe, sie im Regal zu finden, weil sie so klein sind. Die Ausgabe des „Handbüchleins der Moral“ (Enchiridion) des griechischen Philosophen Epiktet gehört dazu. Wahrhaftig ein Hand-Büchlein: Es passt durchaus in eine Westentasche mit seinen 6,5 mal 11,5 Zentimetern.

In eine Buchausstellung würde es wahrscheinlich nie kommen, denn die 1740 in Wolfenbüttel erschienene griechisch-lateinische Ausgabe ist vergleichsweise jung. Die lateinische Übersetzung stammt von dem Humanisten Hieronymus Wolf (1516 bis 1580), sie war zuerst 1561 in Basel erschienen. Bereits in dessen zweisprachiger Ausgabe war sie mit der „Tafel des Kebes“ (Tabula Cebetis) kombiniert, einem vermutlich aus dem Anfang des 3. Jahrhunderts stammenden Dialog, der in Form einer Unterhaltung über ein Bild den Weg zu einem glücklichen Leben erläuterte.Es ist nicht übertriebener Stolz auf den Emder Bestand, wenn man sagt: Das Buch hat genau die Form, die zu ihm passt. Doch um das nachzuvollziehen, ist ein wenig von dessen Inhalt zu erzählen. Dann wird sich auch zeigen, dass es sich in der Tat um einen Bücherschatz ganz besonderer Art handelt.

Claudia Renn mit dem Original des „Enchiridions“ von Epiktet.

„Lerne zu unterscheiden, was in deiner Macht steht und was nicht.“ Wie ein roter Faden durchzieht diese Aufforderung das kleine „Handbüchlein“ des stoischen Philosophen Epiktet. Wer das verinnerlicht hat, so verspricht er, den wird kein Übel mehr treffen, denn er ist gleichsam immun geworden. Natürlich gibt es weiterhin das, was man unter Übeln versteht, Krankheiten, Schmerzen, Misserfolge, Hilflosigkeit, Kränkungen, vor allem aber das Wissen um die Endlichkeit des eigenen Lebens und die Angst vor dem Tod. Aber wer wirklich zu unterscheiden gelernt hat, den erreicht das alles nicht.

Epiktet, geboren in der Mitte des 1. Jahrhunderts in Kleinasien, kam als Sklave nach Rom, wo er vielleicht seinen Namen erhielt: „Epiktet“ bedeutet „der Hinzuerworbene“. Nach seiner Freilassung studierte er die stoische Philosophie und scheint sich bald selbst als Lehrer in Rom betätigt zu haben, später in Nikopolis, heute im Westen Griechenlands gelegen. Vermutlich um 130 n. Chr. ist er gestorben. Geschrieben hat er nichts, was an Schriften unter seinem Namen umläuft, geht auf Aufzeichnungen von Schülern zurück. Er soll seinen philosophischen Prinzipien entsprechend wie ein Heiliger und völlig unbescholten gelebt haben – „gänzlich frei von Dünkel und Anmaßung, an welchen Lastern fast alle anderen Philosophen leiden“, heißt es in der kurzen Lebensbeschreibung von Johann Daniel Snecanus (um 1580 bis um 1655), die unserer Ausgabe voranstellt ist.

Zwischen dem zu unterscheiden, was man ändern kann und was nicht, das gehört zu den Lebensweisheiten, die mancher dann und wann schulterklopfend auf den Weg bekommen haben dürfte. Sicher auch ein Beleg dafür, wie groß der Einfluss des „Handbüchleins“ über die Jahrhunderte gewesen ist. Für Epiktet selbst war das noch kein freundlicher oder tröstlicher Spruch, sondern das Zentrum einer Lehre, die alles andere als Trost zu bieten hatte. Vielmehr trainierte sie Menschen für die Ernstfälle des Lebens so, dass sie Trost gar nicht mehr nötig hatten. Sie sollten vorbereitet sein auf all die Unglücksfälle, die das Leben bereithält, und sie als bedeutungslos ansehen, darauf schauen, als ob sie in einer uneinnehmbaren Burg säßen und von hoher Warte betrachteten, wie sich tief unten ein Trupp Soldaten vergeblich darum bemüht, die Festung zu stürmen.

Lesenswert: Klaus Döring mit der Steinmann-Übersetzung des Epiktets, die im Reclam-Verlag erschienen ist.

Natürlich: In der Realität thront der Mensch nicht auf einer solchen Burg. Seine Situation gleicht oft der eines Gefangenen, der der Willkür der Mächtigen preisgegeben ist. Genau dort setzt Epiktets Unterweisung an. Ein kurzer Dialog, wie er für Epiktets Vorträge typisch gewesen ist: „Verrate das Geheimnis! – Das werde ich nicht tun, denn das steht in meiner Macht. – Ich werde dich fesseln! – Mensch, was redest du denn da? Mich fesseln? Meine Beine kannst du fesseln, aber meinen Vorsatz könnte nicht einmal Zeus brechen.“

Mit Epiktets Philosophie wird der Umgang mit dem geübt, was sich nicht ändern lässt. Die Welt ändern, um sie zu verbessern – ein lächerliches und zum Scheitern verurteiltes Unterfangen. Das einzige, was tatsächlich in meiner Macht steht, ist die Einstellung zu der Welt, wie sie nun einmal ist. Im Grunde gilt es, sie als bedeutungslos zu betrachten, als etwas, was mich gar nichts angeht. Es kommt einzig darauf an, das frei zu erhalten, was den Kern meiner Person ausmacht und was bei Epiktet „Vorsatz“ heißt. Der Vorsatz, sich unter keinen Umständen von äußeren Verhältnissen beeindrucken und bestimmen zu lassen, nicht vom Gerede, nicht einmal von Gewalt.

Wer heute in einer Ausgabe des „Handbüchleins“ liest, wird auf Sätze stoßen, die zunächst befremden. Epiktets Blick ist kalt, illusionslos und streng. Das verriet den einstigen Lesern bereits der Titel: „Handbüchlein“ ist nur eine der Bedeutungen des griechischen Wortes „encheirídion“, die andere lautet „Dolch“. Das kleine Buch, das in jede noch so kleine Tasche passt, und der stets griffbereite Dolch galten als Gegenstände, mit denen man sich wirksam zur Wehr setzen kann. Das „Handbüchlein“ versteht sich als Lehrbuch der geistigen Selbstverteidigung. Es ist weniger Philosophie zum Lesen, es ist Philosophie zum Beherzigen; wie alle ethischen Abhandlungen der Antike will es nicht nur klüger, sondern in erster Linie besser machen. Als solches hat es über die Jahrhunderte zahllose Leser gefunden.

Beispielsweise solche wie den amerikanischen Fliegeroffizier James Stockdale (1923 bis 2005). Er überlebte nach eigenen Angaben eine fast achtjährige Haft in Vietnam, während derer er wiederholt gefoltert wurde, indem er sich das „Handbüchlein“ ins Gedächtnis rief, das er als Student auswendig gelernt hatte.

Aber auch solche Leser wie den reformierten Philosophen und Theologen Johann Heinrich Alsted (1588 bis 1638). In seiner großen Enzyklopädie stellte er dem Abschnitt, der die Ethik behandelte, die lateinische Fassung des Enchiridion voran. Eine bessere Zusammenfassung dessen, wie man leben solle, gab es seiner Meinung nach nicht.

Das Original mit dem Stempel der Johannes a Lasco Bibliothek.

Oder Goethe! Im sechsten Buch der Lebenserinnerungen „Dichtung und Wahrheit“ bringt er die Sprache auf seine jugendlichen Versuche, sich mit der Philosophiegeschichte vertraut zu machen. Er langweilt sich, nur die Stoiker können ihn ansprechen, und von diesen erwähnt er allein Epiktet, „den ich mit vieler Theilnahme studierte“. Entnommen hatte er dem Buch nicht, sich von Schmerzen nicht brechen zu lassen, auch nicht, dass Epiktet dem Christentum ganz ähnliche Auffassungen von einem geglückten Leben vertrete, sondern eher die Einsicht, „daß es im Leben bloß auf’s Thun ankomme, das Genießen und Leiden finde sich von selbst“. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Goethe in der 1740 in Wolfenbüttel erschienenen Ausgabe gelesen hat.

Heute kann man Epiktets großes Buch in einer klug kommentierten und gut lesbaren Übersetzung von Kurt Steinmann aus dem Reclam-Verlag kaufen. Auch das passt in jede Tasche.

► Epicteti Enchiridion et Cebetis Tabula graece et latine, Wolfenbüttel (Meisnerus) 1740. Signatur JaLB: Philol. 8° 0283 M

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Der Autor ist Wissenschaftshistoriker und Theologe. Nach dem Studium der evangelischen Theologie, Philosophie, klassischen Philologie und der Geschichte der exakten Wissenschaften in Berlin und Hamburg promovierte Dr. Michael Weichenhan 2002 über die „Supernova des Jahres 1572 und die Überwindung der aristotelischen Kosmologie“. In den Jahren danach arbeitete er an den Universitäten in Berlin, Frankfurt / Main und Darmstadt. Seit 2019 ist Weichenhan in Emden als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Johannes a Lasco Bibliothek mit dem Editionsprojekt Zwischen Theologie, frühmoderner Naturwissenschaft und politischer Korrespondenz: Die sozinianischen Briefwechsel“ betraut.