Ein Zettelkasten als „Urquelle“

Emden. Johannes Berg, Vorstandsmitglied der Gesellschaft für bildende Kunst und vaterländische Altertümer, wollte im März 2021 eigentlich nur das Archiv der KUNST ein wenig aufräumen und hatte sich deshalb im Magazin der Ostfriesischen Landschaft in Borssum eingefunden, wo die Unterlagen aufbewahrt werden. Was er dann im Keller des Magazins fand, verschlug nicht nur ihm den Atem.

In einem Regal entdeckte Berg unter einem großen Stapel von Unterlagen eine hölzerne Kiste, die er noch nie gesehen hatte. Die eigentliche lokale Sensation befand sich im Innern des Kastens – eine Registratur, die den Altbestand der Gesellschaft vor dem verheerenden Zweiten Weltkrieg aufschlüsselt. Dieser Kasten hatte also tatsächlich Kriegsjahre, Auslagerung, Nachkriegszeit und mehrere Umzüge unbeschadet überstanden.

Museale Inszenierung des Zettelkastens im dritten Stock des Landesmuseums: Provenienzforscher Georg Kö, Historikerin Berit Tottmann, KUNST-Vositzender Gregor Strelow und die KUNST-Vorstandsmitglieder Johannes Berg und Silke Reblin. Bilder: Silke Arends / OLME

Der sogenannte „Zettelkasten“ enthält auf provisorisch zurechtgeschnittenen Papieren im Format Din A7 jene Objekte aus dem Bestand der Gesellschaft, die unter dem Begriff „Altertümer“ subsumiert werden – im Grund all das, was nicht dem Bereich der bildenden Kunst zuzuordnen ist. Das besondere: die meisten Objekte werden nicht nur beschrieben, sondern auch als kleine, aber sehr detailgetreue Zeichnung festgehalten. Das bedeutet, dass die wissenschaftlichen Mitarbeiter im Ostfriesischen Landesmuseum jetzt zuordnen können, welche der Objekte einmal im Eigentum der Gesellschaft waren. Man habe aber auch festgestellt, dass viele Objekte verschwunden sind, konstatiert Kuratorin Dr. Annette Kanzenbach.

In vielen Fällen ist auf den Karten vermerkt, wie die Objekte in den Besitz der KUNST erlangten und wer sie übergeben hat. Das wiederum sind Hinweise, die für den Provenienzforscher im Ostfriesischen Landesmuseum, Georg Kö, von höchstem Interesse sind, weil sich hier womöglich noch Informationen finden, die auf unrechtmäßig übernommenes Kulturgut schließen lassen.

Für Johannes Berg war die Kiste zunächst einmal ein „Zufallsfund“. Aber nachdem erste Begutachtungen der eigenwilligen Registratur stattgefunden haben, erste Objekte zugeordnet werden konnten und auch Provenienzen herausgearbeitet wurden, spricht der Vorsitzende von 1820dieKUNST, Gregor Strelow, nunmehr vom Zettelkasten als einer „Urquelle für den Sammlungsbestand der Gesellschaft“.

Auf den ersten Blick unspektakulär, doch bedeutsam ist der Inhalt des Zettelkastens.

Angelegt wurde die Registratur offensichtlich zwischen 1928 und 1933 von dem eigens für diese Arbeit angestellten Kunsthistoriker Jan Fastenau (1880 bis 1945). Rund 4000 Kärtchen sammelten sich in dieser Zeit an. Inzwischen konnten sie digitalisiert werden. Die Historikerin Berit Tottmann übernahm diese Aufgabe und wird über die vorläufigen Ergebnisse ihrer Arbeit am 22. März referieren (19 Uhr, Rummel im Rathaus am Delft). Das Digitalisat wird für Forschungszwecke zur Verfügung gestellt.

Offenbar ist Fastenau mit seiner Arbeit nicht ganz fertig geworden. Die Zuordnungen innerhalb der Registratur sind noch nicht zu Ende geführt. Immerhin, so stellt Georg Kö zufrieden fest, ist der Zettelkasten nie „gefleddert“ worden. Wie hat Fastenau überhaupt gearbeitet? Auch darüber gibt es genaue Vorstellungen. Angesichts der enormen Fülle des Material geht man davon aus, dass er im damaligen Magazin der KUNST jedes einzelne Objekt in die Hand genommen und systematisch erfasst hat. Damit habe er die bisher ausschließlich von ehrenamtlichen Laien betreute Sammlung erstmals mit dem Blick des Wissenschaftlers ins Auge genommen und mit seiner Arbeit Strukturen geschaffen, die eine kritische Distanz zum Objekt zulassen, sagt Kö.

Zuvor waren Schenkungen und Leihgaben – sofern es sich nicht um Gemälde handelte, die gesondert in Büchern verzeichnet wurden – mit Objektanhängern versehen worden, auf denen Informationen handschriftlich vermerkt wurden. Doch dieses System ist für eine wissenschaftlich thematische oder vergleichende Bearbeitung ungeeignet.

Unterbrochen wurde die Arbeit Jan Fastenaus durch massive Verwerfungen zwischen ihm und dem damaligen 2. Vorsitzenden, Gymnasialprofessor Friedrich Ritter. Die beiden hatten sich von Anfang an nicht verstanden und waren häufig auch verbal aneinander geraten. Es kam deswegen 1933 zur Kündigung, wobei Jan Fastenau diese abzuwenden versuchte, indem er den alten Professor mit Hilfe nationalsozialistisch geneigter Kollegen denunzierte, um ihn aus dem Amt zu hieven. Das geht aus einer autobiographischen Darstellung Fastenaus hervor, in der er die Konfrontation und ihre Gründe beleuchtet.

Trotz der offenbaren Nähe zum Gedankengut des Nationalsozialismus muss der Zettelkasten Fastenaus in dieser Zeit „aus dem Verkehr gezogen worden sein“, vermutet Georg Kö. Das völkische Denken der Nazis, deren Gedankengut für die KUNST einschneidende personelle Veränderungen nach sich zog, und die positivistische Position Fastenaus passten nicht zusammen.

Der Zettelkasten steht im Mittelpunkt einer musealen Inszenierung mit dem Titel „Neu erzählt“. Bewusst habe man dabei eine Art Werkstattcharakter gewählt, erklärt Museumsdirektorin Jasmin Alley mit Blick auf die roh wirkenden Holzwände, die diesen Bereich im 3. Stock des Landesmuseums von der Dauerausstellung abgrenzen.