Das Meer, das kommt und geht

Lesung und Ausstellungseröffnung am 19. Juni in der Johannes a Lasco Bibliothek

Emden. Als Ricardo Fuhrmann, heute als internationaler Künstler in Norden beheimatet, noch Kind war, lebte er in Buenos Aires, wohin die Familie in der NS-Zeit geflohen war. Großmutter Amalie Fuhrmann (geborene Weinberg), eine gebürtige Emderin, beherbergte in ihrem Wohnzimmer – quasi als Erinnerung an die verlorene Heimat – ein Tee-Stövchen und eine große Fotografie des Rathauses am Delft. Daneben wusste sie phantastische Geschichten zu erzählen, erinnert sich Ricardo Fuhrmann. Diese spielten auf dem Boden eines Meeres, das kam und ging. Man könne, so berichtete Amalie, sogar zu Fuß nach Norderney laufen, wo sie mit ihrer Familie und vielen anderen jüdischen Urlaubern einige ihrer Ferien verbracht hatte.

„Als einem echten Stadtkind in den 1960er Jahren erschien mir die Vorstellung, dass ein Meer steigt und sich dann wieder zurückzieht, bis es verschwindet, und dass man sogar zu Fuß zu einer Insel gehen kann, absolut unglaubwürdig.“ Gleichwohl seien ihm diese Erzählungen ganz wunderbar vorgekommen. Die Geschichten der Großmutter hätten sich auf den traumähnlichen Raum des Wattenmeeres konzentriert. Und sie schmückte ihn aus. „Ein Raum voller Entdeckungen, verbunden mit geheimnisvollen Begegnungen mit extravaganten Schiffbrüchigen, verlorenen Perlensuchern, chinesischen Matrosen, Polizisten auf der Suche nach dem ,gestohlenen‘ Meer, außergewöhnlichen Objekten, gestrandeten Schiffen, verwirrten Tauchern, die auf die Rückkehr des Wassers warteten, gelangweilten Fischern …“

Er habe sich mich immer gefragt, wo diese Geschichten ihren Ursprung hätten, ob sie in der Familie erzählt wurden, ob Großmutter Amalie sie von ihrer niederländischen Mutter Henriette gehört hatte, ob sie in der Schule thematisiert wurden, ob sie jemand am Strand erzählt hatte. „Oder waren die Geschichten Produkt ihrer eigenen Phantasie, inspiriert von der Erfahrung und einer tiefen Sehnsucht nach ihrem alten Zuhause und ihrer ostfriesischen Heimat?“ Jetzt, da er in Norden wohne, drei Kilometer vom Szenario all dieser Ereignisse entfernt, würden die Geschichten eine noch tiefere Bedeutung annehmen. „Dies ist eine Erfahrung von verketteten Träumen und verbundenen Kindheiten.“

Gemeinsam mit seinem Künstlerkollegen Daniel Jelin will Fuhrmann „diese Brocken phantastischer Erinnerung“ aufnehmen und sie weiter bearbeiten – durch Rekonstruktion und freie Interpretation, wie er sagt. Das geschieht in unterschiedlicher Form – als Buch mit dem Titel „Phantastische Wattwanderung – Amalie in Norderney“, aber auch in einer Serie von Kunstwerken und einer Installation.

► Öffentlich gemacht wird das Kunstprojekt im Rahmen einer Buchvorstellung am Sonntag, dem 19. Juni, um 11 Uhr in der Johannes a Lasco Bibliothek – „als ein Zeugnis für die besondere Verbundenheit der jüdischen Gemeinde mit der Insel Norderney und für die tiefe Verwurzelung der deutschen Juden, denen die Flucht vor dem Nazi-Horror gelang, mit ihrer Heimat“, wie Fuhrmann es selber ausdrückt.

► Ricardo Fuhrmann wurde in Buenos Aires, Argentinien, geboren als Sohn einer Emder Familie, die 1938 vor dem Nazi-Terror floh. Seit 1993 lebt er und arbeitet in Norden

► Gefördert wird das Kunstprojekt durch die Max Windmüller Gesellschaft Emden im Rahmen des Jubiläums „1700 Jahre Jüdisches Leben in Deutschland“. Die derzeitige politische Lage mache den Einsatz gegen Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit zunehmend erforderlich, ist Fuhrmann überzeugt. Die Max-Windmüller-Gesellschaft bemühe sich, in der Region Verständnis und Toleranz gegenüber jüdischen Erlebniswelten zu vermitteln.