Den Mantel des Vergessens wegziehen
Gedenkveranstaltung anlässlich des 78. Jahrestages der Errichtung des Konzentrationslagers Engerhafe
Engerhafe. 300 Lager mit Häftlingen gab es in Ostfriesland. Eines davon lag in Engerhafe. Es bestand nur zwei Monate. Aber in diesen wenigen Wochen starben dort 188 Menschen – an Unterernährung, Krankheit, schlechter Behandlung, Unterkühlung. Im November und Dezember 1944 wurden nahezu täglich bis zu 18 Menschen auf dem Friedhof der Gemeinde beerdigt. Diesen Menschen gilt die jährliche Gedenkveranstaltung, die der Verein Gedenkstätte KZ Engerhafe e.V. organisiert, und die in diesem Jahr verknüpft war mit einem Vortrag über „Landwirtschaftliche Zwangsarbeiterinnen aus Polen und der Ukraine während des Zweiten Weltkriegs“.
Es sei, so sagte Hilke Osterwald, Vorsitzende des Vereins Gedenkstätte Engerhafe, in ihrer Begrüßung, der beständige Auftrag „zu erzählen, was war, um den Mantel des Vergessens wegzuziehen“. Andrea Kötter, SPD-Landtagsabgeordnete aus Meppen, dem KZ Esterwegen im Emsland verbunden, hatte die Schirmherrschaft über die Veranstaltung übernommen und regte eine stärkere Zusammenarbeit zwischen den Gedenkstätten an.
Der Vortrag von Professor Dr. Elisabeth Harvey (Nottingham / Berlin) richtete sich speziell auf die landwirtschaftlichen Zwangsarbeiterinnen aus Polen und der Ukraine während des Zweiten Weltkriegs. Es seien allein aus diesen beiden Ländern rund 1,9 Millionen Frauen gewesen, die zunächst freiwillig, später zwangsweise ins damalige Deutsche Reich geholt und in den Kriegsalltag integriert wurden. Die Frauen blieben allerdings „eine distanzlose Masse“. Zudem wurden sie durch ein Zeichen an der Kleidung stigmatisiert, erläuterte Elisabeth Harvey.
Warum waren es vor allem osteuropäische Frauen, die geholt wurden? Sie hätten als besonders „gefügig“ und „willig“ gegolten. Obwohl die vorwiegend jungen Frauen eine bessere Verpflegung und Unterkunft als in ihren Heimatländern erhielten, gab es bald erste Fluchtbewegungen. Katastrophal wurde die Situation im Falle von Schwangerschaften. Bis 1942 seien Schwangere zurückgeschickt worden. Ab 1943 wurden zwangsweise Abtreibungen vorgenommen – sogar bei Frauen, die im 6. Monat schwanger waren. Kam es zur Geburt, wurden die Kinder den Frauen weggenommen und so vernachlässigt, dass die meisten an Unterernährung starben.
Anhand zweier Einzelfälle zeigte die Referentin unterschiedliche Entwicklungen auf. Die Schwestern Lena und Maria Salkowa, die in Ostwestfalen bei einem Bauern untergebracht waren, schrieben einen Beschwerdebrief, weil der Bauer sie weit über die abgemachte Zeit hinaus zur Arbeit zwang und ihre religiösen Bedürfnisse missachtete. Da der Bauer allgemein als berüchtigt galt und auch mit anderen Arbeitern so verfuhr, wurden die Frauen gehört und ihre Beschwerde untersucht.
Der andere vorgestellte Fall ereignete sich in Westerende-Holzloog bei Aurich. Hier arbeitete die Ukrainerin Maria Slipschuk bei einem Bauern. Sie hatte einen polnischen Freund, wurde schwanger und beging Selbstmord, wobei nie klargestellt werden konnte, ob der Freund sie zum Suizid nötigte. Die junge Frau starb im Alter von 22 Jahren und wurde auf dem Zentralfriedhof Aurich beerdigt.
Im Anschluss an die Feierstunde verlasen Konfirmanden in der Kirche zu Engerhafe die Namen der 188 verstorbenen Häftlinge des KZ Engerhafe – Sowjetbürger, Polen, Ukrainer, Letten, Niederländer, Franzosen, Italiener, Deutsche. Es wurde für die Verstorbenen jedes Todestages eine Kerze entzündet und in eine Laterne eingestellt. Und es waren viele Laternen, die dann in einer Prozession zum Friedhof getragen und an der Gedenkstätte abgestellt wurden. Ein gemeinsames Vaterunser endete die Gedenkfeier, zu der viele Nachkommen der Verstorbenen nach Engerhafe gekommen waren. Musikalisch hatte Ingo Valentin mit ruhigen Kompositionen von Jan Pieterszoon Sweelinck, Philip Glass und Christian Petzold sowie Kirchenliedern die Feier begleitet.
Am Sonntag ging es dann vom Auricher Güterschuppen aus zu Fuß zum Panzergraben-Denkmal im Sandhorster Forst, wo die KZ-Häftlinge einst zum Arbeitseinsatz am sogenannten „Friesenwall“ gezwungen worden waren.