Wer Proust liest, lernt sehen

Zum 100. Todestag des französischen Schriftstellers und Autors von „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“

Von Dr. Michael Weichenhan

Emden. Am 18. November 1922 starb Marcel Proust. Der Jahrestag gibt Gelegenheit, an den Schriftsteller zu erinnern, der ohne Zweifel zu den bedeutendsten des 20. Jahrhunderts und der gesamten französischen Literatur gehört. Bekannt ist er in erster Linie als Autor eines Romans von kolossalen Ausmaßen, dem sieben Bände umspannenden „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, an dem er seit 1909 bis zuletzt gearbeitet hat. Der Tod hat den Prozess unablässigen Umarbeitens und Erweiterns lediglich beendet, in eine endgültige Form aber hat ihn der Autor nicht mehr zu bringen vermocht.

Valentin Louis Georges Eugène Marcel Proust – Porträt, von Ewa Emery in Aquarell nachempfungen

Dies Unvollendetsein ist kein Mangel; es fehlt dem Roman nichts, was hätte hinzugefügt werden müssen, wenn sein Autor noch einige Jahre länger hätte leben können. Es ist vielmehr Bestandteil des ganz besonderen Schreibens, für das Proust berühmt geworden ist. Proust schreibt auf den knapp 5000 Seiten, die der Roman in der deutschen Übersetzung ausmacht, von Erinnerungen. Genauer müsste man sagen: er schreibt nicht von Erinnerungen, sondern er zeichnet sie auf. Alles, was zur Sprache kommt, was erwähnt, geschildert und beschrieben wird, besteht in Erinnerungen der Figur, die meist als „ich“, bald als „Marcel“ erscheint. Proust hat sie nicht objektiviert, sondern – darin besteht das Atemberaubende seines Buches – so gestaltet, wie man erlebt hat, was man sich später ins Gedächtnis zurückruft. Wir verfahren gewöhnlich anders: Wir erinnern überwiegend das Ereignis selbst, nicht aber das, was wir einst dabei empfunden haben.

Sind wir beispielsweise Zeuge eines Brandes geworden, erinnern wir uns an das, was geschehen ist: an die Flammen, an die Löscharbeiten, an das Ausmaß der angerichteten Schäden. Allenfalls fügt man in der Erzählung noch einige Bemerkungen über den Grad der eigenen Furcht hinzu. Im Vordergrund stehen die Tatsachen. Proust hingegen würde weniger das Ereignis in der äußeren Welt festhalten, sondern eher davon schreiben, welche Gerüche das verbrennende Holz und die versengenden Textilien verströmt haben, er würde vielleicht mitteilen, wie die Flammen ihn geblendet, wie die Rufe und Schreie der Menschen sich mit anderen Geräuschen vermischt haben, und er würde das, was er unmittelbar gesehen, gerochen und gehört hat, mit anderen Empfindungen verknüpfen.

Wenn Proust einen Fliegerangriff auf Paris schildert, so sind es nicht die angerichteten Zerstörungen und nur wie nebenbei die eigene Furcht, die zur Sprache kommen, sondern die Erinnerung an den ersten Anblick eines Flugzeugs bei einem Ausritt an der Küste des Ärmelkanals einige Jahre zuvor. Die Angst drückt Proust erst auf dem Hintergrund des überwältigenden Eindrucks aus, den das Flugzeug einst bei ihm hinterlassen hatte und ihn an eine Göttererscheinung hatte denken lassen: „Ich stellte mir vor, daß jetzt die Begegnung anders ausfallen, daß der Gott des Bösen mich vernichten würde.“

Und das unter Feuer liegende Paris, es wird zum Abbild Pompejis, jener Stadt zu Füßen des Vulkans, deren Bewohner der Ausbruch des Ätna aus ihrem frivolen Leben gerissen hatte. Doch die Zerstörung durch den Beschuss der Flugzeuge kommt der des mächtigen Vulkans nicht gleich: das Bombardement und die sich anschließende Verwirrung eröffnet vielmehr die Möglichkeit, sich der tabuisierten homosexuellen Liebe in der Dunkelheit hinzugeben: „Ja, einige dieser Pompejaner, auf die bereits der Feuerregen des Himmels niederging, begaben sich in die Gänge der Untergrundbahn hinab, die finster waren wie die Katakomben. Sie wußten, daß sie dort nicht allein sein würden. Die Dunkelheit aber, die alles wie ein neues Element umschließt, bringt die […] unwiderstehlich verlockende Wirkung hervor, das erste Stadium der Lust auszuschalten und unmittelbar in eine Phase der Zärtlichkeit einzuführen“.

Wer einen Vergleich zu solcher Art der Darstellung sucht, denkt vermutlich an Gemälde des älteren Zeitgenossen Claude Monet (1840 bis 1926). Dessen Serie von Getreideschobern stellt nicht vor Augen, wie solche Schober selbst aussehen, sondern wie sie einem Betrachter erscheinen. Monet löst die Objekte, jene Getreideschober auf einem Feld in einer sanft hügligen Landschaft der Normandie, in visuelle Empfindungen auf, die sie in ihm hervorrufen. Die Gegenstände der Außenwelt werden zu flüchtigen Erscheinungen einer ganz bestimmten Atmosphäre, und die Kunst besteht gerade darin, genau diesen vorübergehenden Eindruck festzuhalten.

Das riesige Gemälde, das sich vor unseren Augen auftut, wenn wir Proust lesen, zeigt uns das Frankreich der Dritten Republik, das Frankreich, das aus der demütigenden Niederlage gegen deutsche Truppen 1871 hervorgegangen war. Proust, im selben Jahr geboren, schreibt davon nicht wie ein Historiker, sondern aus der Perspektive eines Mannes, der in den begüterten Kreisen aufwächst, sich in den Salons der alten Aristokratie mit ihren teils trivialen, teils geistreichen Unterhaltungen und zahllosen Intrigen aufhält, er lässt die Kämpfe um Anerkennung sehen, die Schmeicheleien, die gekonnt vorzubringen Bedingung dafür ist, in der vornehmen Gesellschaft der „Belle Epoque“ akzeptiert zu werden. Das Individuum Marcel Proust beherrschte die Mechanismen, sich Respekt, ja Zuneigung zu verschaffen, bis in die Fingerspitzen. All dieses Wissen geht in den Roman ein, nicht weniger die enorme Bildung, die man einem Knaben aus guten Verhältnissen angedeihen ließ. Proust hat tatsächlich erlebt, wovon das „ich“ des Romans erzählt.

Erleben allein macht nicht den Schriftsteller; mit Geschick und Können entstehen so unter Umständen aufschlussreiche Memoiren, nicht aber „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Auch wenn Proust die feine Gesellschaft bis in kleinste Nuancen kannte, so ist es die Distanz zu diesem Leben, die ihn zum Autor werden ließ. Proust stand in mehrfacher Hinsicht am Rande der gesellschaftlichen Normen und Ideale: Von Kindheit an von schwerstem Asthma geplagt, war er durch seine Homosexualität stigmatisiert, ein Begehren, das auf Grund der Tabuisierung freilich besondere Formen von Reizen bot, die im Roman eingehend reflektiert werden.

Und schließlich entstammte Proust mütterlicherseits einer jüdischen Familie, eine Tatsache, die wegen des insbesondere in den aristokratischen Kreisen verbreiteten Antisemitismus von nicht zu unterschätzender Bedeutung war. Spätestens der Skandal um die angebliche Spionage des jüdischen Hauptmanns Alfred Dreyfus für die verhassten Deutschen spaltete die französische Nation tief. Proust blickte auf die Gesellschaft, von der er geschätzt und geliebt werden wollte und zu der er tatsächlich gehöre, zugleich vom Rande.

Voraussetzung für den Roman über das Leben ist der Abstand zu diesem Leben: „Man kann […], was man liebt, nur wiedererschaffen, indem man ihm entsagt“, heißt es auf einer der letzten Seiten. Und: „das grausame Gesetz der Kunst ist, daß die Menschen sterben und daß wir selbst sterben, wobei wir alle Leiden bis auf den Grund ausschöpfen, damit das Gras nicht des Vergessens, sondern des ewigen Lebens sprießt, jenes dichte Gras fruchtbarer Werke, auf dem die Generationen voller Heiterkeit und ohne Sorge um die, die darunter schlafen, ihr ‚Frühstück im Freien‘ abhalten werden.“

Kunst als Ergebnis der Absage an das Leben, das festzuhalten Sinn und Ziel schriftstellerischer Tätigkeit ist: das lässt Prousts Monumentalroman zu mehr als einem Dokument der feinen Lebensart um die Jahrhundertwende, der Liebschaften und der Eifersucht, des erlesenen Geschmacks und der inhaltsarmen Plaudereien werden. Prousts Ehrgeiz ging über den realistischen bzw. naturalistischen Roman hinaus: er entdeckte in dem, woran er sich erinnerte, das für die Menschen überhaupt Typische. Vergleichbar einem scharfsinnigen Detektiv erschloss der distanzierte Beobachter scheinbar belangloser Details das Wesentliche, die Spur, die zur Wahrheit führt. Wer Proust liest, lernt sehen: genau sehen.

„Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ ist unvollendet. Die Arbeit an den Erinnerungen kann, so könnte man sagen, nie vollendet werden. Sie wird nur beendet durch den Tod. Diesen Wettlauf mit der eigenen Endlichkeit, die insbesondere einem Schwerkranken – der Proust war – stets vor Augen steht, hat er mit einem Werk verglichen, das ihm wegen seines Facettenreichtums und seiner Unerschöpflichkeit Vorbild war: den „Geschichten aus Tausendundeiner Nacht“. Jede dieser Geschichten wird erzählt, um den Tod eine weitere Nacht hinauszuschieben. Ein solches Erzählen kommt an kein Ziel, es endet, unvollendet. Wie jedes menschliche Leben.

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Zitate aus: Marcel Proust. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Übersetzt von Eva Rechel-Mertens, revidiert von Luzius Keller, Frankfurt/M. 2011; Band 7, S. 209; Band 4, S. 640; Band 7, S. 210, 521, 513.