Zwischen Hunger und Abenteuer

Emden. Geschichten leben von Details. Und davon hatten die drei Gesprächspartner Edzard Wagenaars viele zu bieten. Der Medienschaffende, der als seinen Hauptberuf angibt, Emder zu sein, hat zur Sonderausstellung „Melanie Schulte – Schiff, Unglück, Mythos“ das Format „Edzard Wagenaar trifft …“ erfunden, das am Sonntag (5. Februar) erstmals im Rummel des Rathauses vor vollem Haus stattfand. Museumsleiterin Jasmin Alley sagte in ihrer Begrüßung, dass die Vielzahl von Themen, die sich rund um den Mehrzweckfrachter, der Weihnachten 1952 im Nordatlantik verschwand, ergeben, in diesem Gesprächsformat aufarbeiten werde.

Diskussion unter historischen Emden-Bildern: Edzard Wagenaar, Alwin Brinkmann, Gunther Hummerich und Joachim Frerichs

So stand am Sonntag – gleichsam als Basis – das Leben und Arbeiten in Emden in den späten 40er und den 50er Jahren auf dem Plan. Als Zeitzeugen waren dabei: Alt-Oberbürgermeister Alwin Brinkmann (SPD, geboren 1946), der einstige CDU-Ratsherr Joachim Frerichs (geboren 1931) und der ebenfalls ehemalige FDP-Ratsherr und Emden-Chronist Gunther Hummerich (geboren 1941). Alle waren zu jener Zeit, als das Schiff unter dramatischen Umständen sank, noch Kinder. Aber alle brachten eigene Erinnerungen ein: War das wesentliche Empfinden von Joachim Frerichs der beständige, nagende Hunger, so schilderte Gunther Hummerich sein Kinderleben im kriegszerstörten Emden als eine einzige Abenteuer-Tour, mit Spielen zwischen den Trümmern, Wettrennen rund um den Neuen Markt und Bunker-Sprengung gleich um die Ecke. Brinkmann, aufgewachsen auf Transvaal erinnerte sich wiederum lebhaft an die Bahngleise als „Demarkationslinie“ zum Rest der Stadt, an wilde Kämpfe zwischen den Kindern aus Transvaal und Port Arthur, an räumlich prekäre Unterbringung, aber warmen familiären Zusammenhalt.

„Lebenselexier“, Arbeitsstätte und Mittelpunkt sei der von den Zerstörungen unberührt gebliebene Hafen und damit auch die Werften gewesen, über den Emden sich über Jahrhunderte definiert hätte. So habe der Auschwung, den die Hafenwirtschaft in den 50er Jahren nahm, dann auch massive positive Auswirkungen auf die Entwicklung der Stadt selbst gehabt: Bauboom, Neue Heimat, Gastronomie, Einzelhandel, Sport waren Stichworte, die fielen. Aber auch die Schule und die Lehrer blieben nicht unerwähnt. Viele von ihnen, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit eingesetzt waren, seien Nazis gewesen und hätten Bestrafungen mit dem Rohrstock immer noch für eine probate Erziehungsmethode gehalten, sagte Brinkmann.

Aber der Hafen sei bestimmend gewesen und damit auch die Nieter, die pro Schiff 400 000 Nieten gesetzt hätten – eine Tätigkeit, die das Leben in Port Arthur / Transvaal akustisch bestimmte. Die Hafenarbeiter brachen morgens um 6 Uhr zur Arbeitsstelle auf – um bei Rinnerts Bude oder am Duckeldamm abends ihr Bier zu trinken. Und dann gab es ja auch noch die Entlohnung, die wöchentlich in Lohntüten ausgezahlt wurde. Kleidung und Schuhe wurden in Kleinsummen abbezahlt, und als die ersten Überweisungen getätigt wurden, gab es Klagen, dass ja nun die Ehefrauen den Verdienst direkt ablesen und die kleinen Entnahmen für den eigenen Bedarf nicht mehr getätigt werden konnten.

Leben und Arbeiten im Emden der 50er – das wurde am Sonntag wieder lebendig. Kaum einer im Saal, der nicht irgendeine der Erinnerungen teilen konnte – zumal Wagenaar nicht nur Bilder der Zeit in Fülle präsentierte, sondern die Veranstaltung mit einem Ausschnitt aus der Wochenschau von 1947 begann, in der das zerstörte Emden zu sehen war – aber auch der Fokus auf den beginnenden wirtschaftlichen Aufschwung gelenkt wurde, der zum Wiederaufbau und zur Prosperität führte.