„Höhere Gewalt“ contra menschliche Dramen

Ein Besuch bei den Proben zum Theaterstück „Melanie Schulte“ in der Neuen Kirche

Emden. „Ich liebe euch“, ruft Regisseur Werner Zwarte am Ende einer fast dreistündigen Probe in der eiskalten Neuen Kirche seinen Spielerinnen und Spielern zu. Er ist ausgesprochen zufrieden, schließlich ist es das erste Mal, dass das Stück „Melanie Schulte“ komplett, im Kostüm und am späteren Aufführungsort durchgespielt wird.

Warten auf den Auftritt: Mitglieder des Ensembles in der Neuen Kirche

Es ist die Geschichte jenes Schiffes, das beim Stapellauf auf der Ablaufbahn der Helling steckenblieb, von dem man sich zuflüsterte, es wolle nicht ins Wasser, das daraufhin als Unglücksschiff angesehen wurde, das auf der zweiten Reise vor den Äußeren Hebriden in schweres Wetter geriet und in der Nacht vom 21. auf den 22. Dezember 1952 plötzlich verschwand. Die Seeamtsverhandlung über den vermutlichen Untergang der „Melanie Schulte“ ist die Grundlage des Theaterstücks, das Museumspädagogin Ilse Frerichs geschrieben hat.

Gearbeitet wird in der theatralen Umsetzung gleichsam in parallelen Welten. Die Seeamtsverhandlung von 1953 bildet den Roten Faden. In Rückblenden geht es um persönliche Belange: um die Freude des Seemanns, der sich glücklich schätzt, auf letzter Minute einen Job an Bord bekommen zu haben. Um den Funker, der seiner Familie ein Weihnachts-Telegramm schickt, das diese in Händen hält, als er schon tot ist. Um den Nieter, der stolz ist auf seine handwerkliche Arbeit an der „Melanie Schulte“.

Wird im Theaterstück als Zeuge befragt: OB Tim Kruithoff, der sich das Mitspielen nicht nehmen lassen wollte

Der Bühnenraum vor der Kanzel ist dreigeteilt. Die Mitte wird beherrscht von den drei Männern, die die Seegerichtsverhandlung leiten und dazu Experten befragen, die nach und nach einzeln vor das Gremium treten und ihre Aussage machen. Links und rechts aber spielen sich jene emotionalen Dramen ab, die deutlich machen, wie sehr der Untergang des damals hochmodernen Schiffes die Menschen so schockierte und warum die Nacht vom 21. zum 22 Dezember 1952 nach wie vor im kollektiven Gedächtnis der Stadt eine so große Rolle spielt.

Autorin Ilse Frerichs bewundert das Durchhaltevermögen des Teams. Seit drei Jahren sind die Spielerinnen und Spieler dabei. Immer wieder gab es Anlässe zum Verschieben – mehrfach war es Corona, dann wieder der Bauverzug im neuen Festspielhaus am Wall, wo das Stück eigentlich zum Saisonauftakt eingeplant war. Wegen der langen Zeitspanne musste auch umbesetzt werden. So war der Darsteller eines Kindes körperlich derart gewachsen, dass er nicht mehr ins Bild passte und ersetzt werden musste.

Bei der Probe am Sonnabend (25. März) sind die Spieler nahezu vollzählig vor Ort. Alle haben Kleidung der 40er oder 50er Jahre an, alle sind textlich gut drauf. Es geht jetzt darum, die gesamte Inszenierung möglichst ohne große Unterbrechungen durchlaufen zu lassen, um die Wirkung einschätzen zu können. Wer muss wo stehen, um seinen Auftritt leisten zu können? Wie kommt man am besten an seinen Platz? Wie laut muss man sprechen, um in dem hallenden Raum auch gehört zu werden? Was muss noch an der Feinabstimmung verändert werden?

Die drei Sachverständigen der Seeamtsverhandlung

Piet Meyer, technischer Leiter, gibt letzte Anweisungen. Er kennt die Kirche und weiß genau, wie das Ganze laufen muss, damit sich die Spieler auch ohne Mikro verständlich machen können. „Wenn alle 200 Besucher im Haus sind, dämmt das den Hall enorm“, beruhigt er das Ensemble. Mehr Plätze als 200 im Erdgeschoss werden pro Abend auch nicht vergeben, denn der Bereich der Emporen nimmt die gesamte Technik auf und wird mehrfach als erweiterte Spielstätte genutzt.

Dann fordert Werner Zwarte „absolute Ruhe“, mahnt noch einmal lautes und deutliches Sprechen an und erklärt, dass man die Südwand nutzen werde, um Bildmaterial zu projezieren – zur Erklärung für das Publikum und als zusätzliches Medium. Dann ertönt die Stimme von Hans Albers. Sein „Es weht der Wind von Norden“ geht in heftiges Meeresrauschen über. Das Spiel beginnt.

Regisseur Werner Zwarte bei der Probenarbeit. Hinter ihm: Autorin Ilse Frerichs

Dabei ergibt sich die größte Spannung aus dem nüchtern-geschäftsmäßigen Ton der Verhandlung – die zum Schluss kommt, es habe sich hier um „höhere Gewalt“ gehandelt – und der menschlichen Dimension des maritimen Dramas. Als ganz zum Schluss die 35 Namen der untergegangenen Seeleute in schier endloser Reihe verlesen werden, wird es still. Und als Ilse Frerichs dann noch leise flüstert, sie habe gerade erst ermittelt, dass bei dieser Inszenierung exakt 35 Spielerinnen und Spieler auf der Bühne stehen, vertieft sich ein Unbehagen, das ohne jedes weitere Wort im Raum hängt.

► Die Geschichte vom Untergang der „Melanie Schulte“ spielt das Ensemble zu folgenden Terminen: 15. / 16. / 18. / 19. / 21. / 23. / 26. / 28. / 29. April, Einlass: 20 Uhr, Beginn der Vorstellung 20.30 Uhr, Eintritt; 25 erm. sieben Euro, Reservierung: Kulturevents, Alter Markt 2a, Tel. 0 49 21 / 87 12 66 oder kulturevents@emden.de