Das ewig Weibliche …

Serie über die bibliophilen Schätze der Johannes a Lasco Bibliothek, Teil 14

Von Dr. Michael Weichenhan

Emden. Die Reihe, die Bücherschätze der Johannes a Lasco-Bibliothek vorstellt, wird in den nächsten Beiträgen Frauengestalten in den Blick nehmen. Es geht in der Tat um Frauengestalten, nicht aber um Personen weiblichen Geschlechts, die irgendwann einmal gelebt haben mögen. Die Rede wird sein von Bildern, von Erfindungen, von anziehenden oder auch abstoßenden Charakteren, deren Trägerinnen nur in literarischen Texten existieren.

Wer in einer Bibliothek stöbert, die Bücher verschiedener Zeiten in ihrem Bestand hat, wird überraschende Entdeckungen machen. Die erste Überraschung wird vielleicht sein, welch große Anzahl faszinierender Frauengestalten es gibt, wenn man damit begonnen hat, nach ihnen zu suchen. Und die zweite, wie vielfältig diese Bilder sind, die da entworfen wurden.

Mochten Frauen in der langen Geschichte, die wir als für unsere Kultur bestimmend bzw. der wir uns zugehörig betrachten, überwiegend auf einen engen Kreis von Rollen festgelegt sein, auf die Ehefrau und Mutter, auf das schutzbedürftige Mädchen und die gütige Großmutter, so führt uns die Literatur ein unvergleichlich reicheres Spektrum vor Augen. Und schließlich wird sich zeigen, dass die alten und uralten Geschichten im Laufe der Jahrhunderte wieder und wieder neu geschrieben, an den Figuren neue Züge entdeckt wurden, ja, dass jede Zeit bei der Lektüre alter Texte ihre je eigenen Bilder der Frau und damit auch des Menschen überhaupt entwirft.

Wo soll man beginnen? Natürlich am Anfang, und das heißt in diesem Falle selbstverständlich: bei Eva.

Gustave Doré: Die Erschaffung Evas. Stahlstich, in: Die Heilige Schrift, Band 1, Stuttgart 1887 (Signatur JaLB: Theol. 2° 0592 (1) M). Doré (1832 bis 1883) hat das Märchenhafte der Entstehung Evas aus einer Rippe durch eine erotisch angehauchte Szenerie ersetzt, in der Eva den schlafenden Adam überrascht

Ihre Geschichte, die im zweiten und dritten Kapitel des ersten Buches der Bibel steht, kennt im Grunde jeder: Den Mythos von der Erschaffung des Menschen in einer Oase, dem Garten des Paradieses, dem eine Gefährtin zur Seite gestellt wird, die Gott einer Rippe des schlafenden Adam entnimmt.

Fahrt nimmt die Geschichte auf, wenn dann erzählt wird, wie es der Schlange gelingt, die Frau zu überreden, das göttliche Verbot zu übertreten, von der Frucht eines ganz bestimmten Baumes in diesem Garten zu essen. Keineswegs würden die Menschen sterben, vielmehr werden wie Gott selbst und Gut und Böse unterscheiden können. Die Rede verfängt, die Frucht sieht verlockend aus, und so kostet zunächst die Frau, die dann dem Mann davon zu essen gibt. Tatsächlich ist die Frucht nicht giftig wie der Apfel Schneewittchens, denn beide sterben nicht, sondern erkennen, dass sie nackt sind. Sie schämen sich.

Wenig später bricht das Strafgericht des erzürnten Gottes herein. Zur Rede gestellt, schiebt Adam die Schuld auf die Frau, die ihn zu diesem Schritt verführt habe, diese wiederum versucht sich auf die Reden der Schlange herauszureden. Doch das alles zählt nicht: das Menschenpaar wird aus dem Paradies vertrieben, fortan bestimmen Mühe, Arbeit und Schmerzen das Leben. Disteln und Dornen werde der Acker tragen und das bloße Überleben große Mühen erfordern; die Geburt der Kinder werde qualvoll sein, so die Strafe für die Frau, deren Name nunmehr genannt wird: im Hebräischen „Hawwa“, oft gedeutet als „Leben“. Wir nennen sie: „Eva“.

In Form einer Geschichte wird erklärt, warum es der Mensch, anders als vermeintlich Pflanzen und Tiere, schwer hat mit seiner Existenz: Es fällt ihm nichts mehr zu, das Leben erweist sich als eine nicht endende Reihe qualvoller Anstrengungen. Es ist bedroht von Mangel; Eifersucht, Habgier und das Übel des Krieges werden deshalb nicht lange auf sich warten lassen. Und schließlich erfolgt die Fortsetzung des eigenen, endlichen Lebens über Nachkommen, die zur Welt zu bringen nicht nur schmerzhaft, sondern über Jahrtausende hinweg auch lebensbedrohlich war.

Titelblatt der Hesiodausgabe (Signatur JaLB: Philol. 8° 0125 M), Hagenau 1532. Der Titel gibt griechisch Verfasser (Hesiod von Askra) und Titel (Werke und Tage) an, der lateinische Untertitel verweist auf die Vorrede und die „sehr bedeutenden Anmerkungen“ von Philipp Melanchthon

Dass der Mensch zunächst nur als Mann existierte, die Frau erst später kam, diese Auffassung kennen wir nicht nur aus der Bibel, sondern auch von einem griechischen Dichter des 8. Jahrhunderts v. Chr. namens Hesiod. Auch bei Hesiod wird das menschliche Elend durch einen Mythos erklärt. Hier aber fordert den Zorn der Götter die List des Prometheus heraus, der für den Menschen das Feuer gestohlen hatte.

Darüber erbost, ersann Zeus „ein Übel, an dem sich jeder von Herzen erfreut und das er umarmt“: Die Frau, das kunstvolle Gemeinschaftswerk aller Götter, deshalb „Pandora“, die „Allgabe“, genannt. Schön und verführerisch präsentiert sich dieses Meisterwerk göttlicher Raffinesse, aber Hesiod murrt, dass mit ihm das Unglück des Menschen eigentlich erst begonnen habe, denn bald schon stelle sich heraus, dass die Frauen zumeist verschwenderisch und zänkisch seien.

In der biblischen Geschichte von Adam und Eva wird das elende Dasein der Menschheit durch einen Akt des Ungehorsams begründet, den beide begangen haben und der auch beide gleichermaßen trifft, freilich auf je spezifische Weise. Bei Hesiod hingegen ist die Frau das listenreich ersonnene Mittel, das dem Mann vor Augen führt, dass er schwächer als die Götter ist. Es versteht sich, dass in beiden Fällen die Perspektive von Männern leitend ist, die um die verführerische Kraft, ja den Zauber wissen, der von Frauen ausgeht.

Die Frau als Verführerin, die einem ertappten Mann als Ausrede dient, bleibt ein geläufiges und immer wieder variiertes Motiv. Hinzu kommt, was heutige Leser zu Recht befremdet, die untergeordnete Stellung der Frau. In den theologischen Kommentaren zum ersten Buch der Bibel fehlten niemals ausführliche Hinweise auf die natürliche bzw. göttliche Rangordnung der Geschlechter, ebenso wenig die Mahnungen, sich vor den Frauen und ihren Einflüsterungen in Acht zu nehmen.

Die Geschichte von Evas und Adams Ungehorsam, die ihre Vertreibung aus dem Paradies zur Folge hat, ist aufgeladen worden mit Diskussionen um eine Begründung für die göttliche Strafe. Und bestand diese eigentlich nur darin, sein Leben mühselig und elend dahinzubringen und schließlich zu sterben?

Der Apostel Paulus war nicht der erste, der dies entschlossen verneinte, aber derjenige, der dies mit großer Wirkung tat. Das irdische Leben wurde zu einer vergleichsweise kurzen Episode, in der sich entschied, ob man von den Qualen der Hölle, denen man gleichsam automatisch anheimfallen würde, gerettet werden würde oder nicht.

Begründung für diesen Automatismus lieferte die Vorstellung, die Schuld, die zuerst Eva, dann Adam, auf sich geladen hatten, werde von Generation zu Generation vererbt. Die Austreibung aus dem Paradies bedeutet dann, nicht nur eines glücklichen Lebens verlustig gegangen zu sein, sondern, sofern man nicht durch die Taufe gerettet worden ist, verdammt zu sein.

Im Jahre 1667 veröffentlichte der Dichter John Milton (1608 bis 1674) das Epos „Paradise Lost“, „Das verlorene Paradies“, eine weit über die biblischen Berichte hinausgreifende und hoch dramatische Darstellung der Ereignisse, die der Erschaffung des Menschen vorangegangen waren und sie begründeten: Das Schicksal der ersten Menschen erschien so als Auswirkung wahrhaft kosmischer Prozesse, einer Revolte innerhalb der Welt der Engel, die, vom Satan angezettelt, vom göttlichen Herrscher dennoch vorausgesehen war.

Titelblatt der Übersetzung von Milton, Paradise Lost, von Justus F. W. Zachariae im Rahmen einer Gesamtausgabe seiner Werke, Braunschweig 1764. Signatur JaLB: Philol. 8° 0742 (6) Eb.

Die Johannes a Lasco Bibliothek besitzt ein (freilich unvollständiges) Exemplar der Übersetzung in Hexametern, die der Göttinger Professor Justus Friedrich Wilhelm Zachariae (1726 bis 1777) vorgelegt hatte darüber hinaus eine Übersetzung in Prosa von einem namentlich nicht genannten Autor, 1783 in Mannheim erschienen. Der Text beginnt, den antiken Vorbildern des Epos entsprechend, mit der Anrufung der Muse und einer knappen Inhaltsangabe, die in der Prosa-Übersetzung lautet:

Den ersten Ungehorsam des Menschen, die Frucht des verbotenen Baumes, durch den der Tod und all unser Wehe in die Welt kam und Eden verloren ward, bis uns ein größerer Mensch in die vorigen Rechte wieder einsetzte und den seligen Sitz wieder eroberte, singe himmlische Muse […]. (Bd. 1, S. 1f.)

Milton war Puritaner, d.h. Anhänger einer radikalen protestantischen Bewegung in England, die die Sündhaftigkeit des Menschen in den düstersten Farben malte, deren bittere Strenge und geradezu fanatischer Eifer sprichwörtlich geworden ist. Aber er war zugleich ein wortgewaltiger Dichter, der mit großer Sensibilität all das zur Sprache zu bringen verstand, was nicht nur in der knappen Erzählung der Bibel, sondern in den zahllosen Abhandlungen und Kommentaren ungesagt und unausgelotet geblieben war. Die Überredung Evas durch die Schlange, ihr Zögern und schließliches Nachgeben, das Schwirren der Gedanken, ob und wie sie Adam von der zwar unerlaubten, aber gerade deshalb so köstlichen Frucht zu kosten geben solle, wiederum dessen Schwanken zwischen Furcht und Begierde, all dies zeichnet nicht ein Ereignis aus ferner Urzeit nach, sondern stellt vor Augen, was den Menschen ausmacht: Dass er Schauplatz von widerstreitenden Motiven ist, hin- und hergerissen abwägt und sich dann für etwas entscheidet, was ihm Genuss, später dann Schmerz und Kummer bereitet. Hören wir einen Teil der Rede, die Eva an Adam richtet:

Frontispiz und Titelblatt der anonymen Prosaübersetzung, Mannheim 1783. Signatur JaLB: Philos. 8° 0568 M

Dieser Baum ist nicht, wie man uns sagte, gefährlich, wenn man davon kostet, und er öffnet den Weg nicht zu unbekanntem Übel, sondern göttlich von Kraft; er kann die Augen öffnen und die zu Göttern machen, die davon kosten. […] Die Augen, zuvor dunkel, sind offener, die Geister ausgebreiteter, das Herz ist weiter und wächst der Gottheit entgegen. Ich suchte dieses besonders um deinetwillen und könnte es ohne dich verachten. Denn das Glück ist mir ein Glück, wenn du Theil daran nimmst; ohne daß du Theil daran nähmest, würde ich seiner bald überdrüßig; koste denn du auch, damit uns ein gleiches Schicksal, gleiche Freude wie eine Liebe vereinige. (2. Bd., S. 119)

Und nachdem Adam, zunächst erschrocken, um seiner Liebe zu Eva willen selbst gekostet hat, jubelt sie
(S. 124):

Ich höre dich mit Entzückung von unserer Vereinigung reden, einem Herzen, einer Seele in beyden; davon giebt dieser Tag eine treffliche Probe, da du dich erklärst, du wollest dich lieber gleicher Schuld und gleicher Strafe mit mir theilhaftig machen, als daß der Tod oder etwas, das mehr zu fürchten ist als der Tod, uns zwey scheiden solle, die eine so theure Liebe zusammen verbindet. Wenn es auch ein Verbrechen ist, von dieser schönen Frucht zu kosten, die durch ihre Tugend, denn von Gutem entspringet allemal Gutes, unmittelbar oder durch die Folge, diese glückliche Probe deiner Liebe veranlasset hat, die sonst niemals in dem hohen Grade wäre bekannt worden.

Was sich hier abspielt, ist das Drama der Selbstentdeckung, die Entdeckung der Tiefe der eigenen Person, ihrer Selbstständigkeit gegenüber dem Äußeren und dem Anderen: aus kindlicher Vertrautheit wird gegenseitige Anteilnahme und leidenschaftliche Liebe, der sich die beiden auch sogleich hingeben werden. Und im letzten Satz klingt bereits an, was später Philosophen zum Ausgangspunkt ihrer Deutungen des Sündenfalls nehmen werden:

Anders als Pflanzen und Tiere muss der Mensch erst werden, sich zu dem machen, was er ist. Er muss Harmonie und Gleichmaß des Paradieses stören und aus ihm vertrieben werden, um überhaupt ein – erwachsener, selbstständiger – Mensch zu werden, muss die Erfahrung eines anderen Menschen machen, um sich zu entdecken und zu anderen in Beziehungen zu treten, die von Gleichgültigkeit bis zur liebenden Hingabe reichen können. Erst durch den „Sündenfall“ kommt zum Vorschein, was in der Natur nicht vorkommt: Böses und Gutes, Hass und Liebe, Lüge und Wahrheit – all die Zweideutigkeiten, die menschliches Handeln prägen.

Eva, die zuerst der Verlockung nachgab, ist in der Rolle der Verführerin des Mannes oft gescholten worden. Man kann sie auch anders sehen, als diejenige, die den ersten Schritt in diese freie Menschwerdung getan hat und den Mann dazu allererst – verführen musste. „Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan“, heißt das wohl am Schluss von Goethes „Faust“.

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Der Autor ist Wissenschaftshistoriker und Theologe. Nach dem Studium der evangelischen Theologie, Philosophie, klassischen Philologie und der Geschichte der exakten Wissenschaften in Berlin und Hamburg promovierte Dr. Michael Weichenhan 2002 über die „Supernova des Jahres 1572 und die Überwindung der aristotelischen Kosmologie“. In den Jahren danach arbeitete er an den Universitäten in Berlin, Frankfurt / Main und Darmstadt. Seit 2019 ist Weichenhan in Emden als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Johannes a Lasco Bibliothek mit dem Editionsprojekt „Zwischen Theologie, frühmoderner Naturwissenschaft und politischer Korrespondenz: Die sozinianischen Briefwechsel“ betraut.