Zwischen Klischees und Stereotypen

Aurich. Gibt es eine ostfriesische oder friesische Identität? Dieser Frage ging eine Tagung der Ostfriesischen Landschaft in Aurich nach. Und auch nach sieben Referaten und sechs Stunden Tagungsdauer war die Frage tatsächlich nicht wirklich zu beantworten. Identität, dieser sperrige Begriff, ließ sich weder in den vergangenen Jahrtausenden noch in der Gegenwart recht fassen. Und ob die plattdeutsche Sprache, die Teezeremonie, historische Windmühlen oder Steinhäuser wirklich Identität stiften, wurde angezweifelt. Denn kann man im Rückschluss behaupten, dass der Mensch kein Ostfriese ist, der hier zwar lebt, aber weder die Sprache beherrscht noch Tee mag?

Die Tagung fand im Forum der Ostfriesischen Landschaft statt. Am Pult: Landschaftsdirektor Dr. Matthias Stenger. Bilder: Sebastian Schatz

Gleichwohl schafften es die Redner, geschichtliche Szenarien zu beschreiben, die historisches und gegenwärtiges Leben in Ostfriesland lebhaft vor Augen stellten. Dabei unterschied Professor Dr. Susanne Kost von der Technischen Hochschule Ostwestfalen-Lippe, wo sie Planungstheorie und Planungsmethodik lehrt, mehrere Formen von Identitätsstrukturen. Sie differenziert unter anderem zwischen gelebter Identität, die sich eben im gemeinsamen „Moin“, in der Sprache oder dem Teetrinken, und der sogenannten repräsentativen Kultur, die in Narrativen und Stereotypen zu verorten sind. Dazu zählt etwa die – wie sie in Umfragen ermittelte – nach wie vor lebhafte Abneigung zwischen Emden und Aurich, die Vorurteile von Marschbauern gegenüber ihren Kollegen auf der Geest (und umgekehrt), Vorbehalten, Menschen aus der Geest ein Amt an der Küste anzuvertrauen, etwa bei den Deich- und Sielachten.

Eröffnete die Tagung mit einem Hinweis auf den Friesenkongress 2018, der auch schon der Frage der Identität nachgegangen war: Landschaftspräsident Rico Mecklenburg

Der Leiter der Landschaftsbibliothek, Dr. Paul Weßels, beschrieb in seinem Vortrag über „Friesische Freiheit, der Upstalsboom und Eala Frya Fresena“ wie der Upstalsboom in der Aufklärung vom einfachen Hügel zum verklärenden Symbol der Friesischen Freiheit aufstieg, im 19. Jahrhundert aber den Charakter des Widerstandes verlor, indem er auf Darstellungen mit dem Cirksena-Wappen verziert wurde. Aus diesem historischen Mißverständnis heraus entwickelte sich die ostfriesische Fahne in den Farben Schwarz-Rot-Blau. So hätten die Ostfriesen letztlich die Farben des umstrittenen Grafen- und Fürstenhauses zu den ihren gemacht.

Archäologin Dr. Sonja König verknüpfte ihre Ausführungen, die die Teilnehmer rund 14 000 Jahre zurück führte, mit einer Darstellungen der völlig veränderten Landschaftsstruktur. Denn zu Zeiten der Jäger und Sammler lag Ostfriesland mitten im Land, die Küsten waren weit entfernt, die Identitäten der Menschen nicht zu klären. Das ging auch so weiter, so dass Sonja König schließlich resümierte, dass ein „lebhaftes Herumziehen“ zu registrieren sei, ohne aber die Volksstämme festmachen zu können. „Wir wissen nicht, wer diese Menschen waren.“

Für die Bau- und Sachkultur des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit stellte Dr. Stefan Krabath (Niedersächsisches Institut für historische Küstenforschung, Wilhelmshaven) fest, dass in reichem Maße nach Ostfriesland importiert wurde. Die besonderen Formen der Bauplastik wurden von Westfrankreich angeregt, ebenso entsprechen die Steinhäuser dem französischen Typus des 11. Jahrhunderts, der Gulfhof folgt Vorbildern in Flandern, die Taufsteine kommen aus Bentheim, Porzellan aus dem thüringischen Wallendorf, Fayencen aus Holland. Krabath: „Die Innovationen kommen aus dem Westen.“

Volkskundlerin und Kulturanthropologin Nina Hennig spürte in ihrem kritischen Vortrag „Ich habe nirgends ein in sich gekehrteres, schweigsameres Volk gefunden als in Ostfriesland“ volkskundlichen Beschreibungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts nach. In ihnen bündeln sich Klischees wie jene, dass das Landesklima sich auf den Menschenschlag auswirke, der Norden für Kälte stehe und die Menschen dort unbeweglich, schweigsam und zurückhaltend seien. Klischees und keine identitätsstiftenden Merkmals.

Stellte ihre Forschungen vor und musste dabei manchmal selber lachen: Professor Dr. Susanne Kost

Einzig Grietje Kammler, Leiterin des Plattdüütskbüro der Ostfriesischen Landschaft, stellte mit ihrem Vortrag „Plattdeutsch als identitätsstiftendes Moment im modernen Ostfriesland“ einen Gegenentwurf dar, indem sie die emotionale Komponente des Plattdeutschen betonte. „Platt ist Zuhause sein.“ Das schlechte Image der 60er Jahre sei einem großen Zuspruch zur Sprache gewichen. Dieser zeige sich auch in einer aktuellen Umfrage anlässlich des diesjährigen Plattdüütskmaant September.

Der Leiter des Niedersächsischen Landesarchivs Abteilung Aurich, Dr. Michael Hermann, näherte sich der Identitätsfrage von einer ganz anderen Seite. Er beleuchtete die Geschichte des Indigenats, heute die Verleihung der ostfriesischen Ehrenbürgerwürde an Nicht-Ostfriesen. Ursprünglich sei das Indigenat aber ein Mittel gewesen, um Nichtostfriesen mit öffentlichen Ämtern betrauen zu können. Hermann verfolgte das Indigenat, das auch als Machtmittel der Landstände gegen den Grafen genutzt wurde. Die Stände verliehen das Indigenat demnach erstmals 1691. Noch 1823 konnte ein Indigenat nur der erlangen, der Immobilien besaß, mindestens sechs Jahre in Ostfriesland gelebt hatte nachweisen konnte, dass er „das Wohl des Landes“ im Blick hatte.