Eine Fürsprecherin ihres bedrohten Volkes

Serie über die bibliophilen Schätze der Johannes a Lasco Bibliothek, Teil 16

Von Dr. Michael Weichenhan

Emden. Die Reihe, die Bücherschätze der Johannes a Lasco-Bibliothek vorstellt, wird in den nächsten Beiträgen Frauengestalten in den Blick nehmen. Es geht in der Tat um Frauengestalten, nicht aber um Personen weiblichen Geschlechts, die irgendwann einmal gelebt haben mögen. Die Rede wird sein von Bildern, von Erfindungen, von anziehenden oder auch abstoßenden Charakteren, deren Trägerinnen nur in literarischen Texten existieren.

Heute: ESTHER

Es mutet an wie ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht: Ergrimmt verstößt der Großkönig von Persien seine ungehorsame Frau und erwählt sich unter den Jungfrauen des Reiches ein schönes Mädchen namens Hadassa bzw. Esther, eine Waise, die von ihrem Verwandten Mardochai aufgezogen wurde.

Mardochai, einer der Juden, die im persischen Reich das heikle Leben von Exulanten führen, dient bereits treu am königlichen Hof. Als solchem kommt ihm eine geplante Verschwörung zu Ohren, die er seinem König anzeigt, der sich dafür erkenntlich zeigt. Doch schon lauert das Unglück in Gestalt des intriganten Ministers Haman, der die Weigerung Mardochais, sich vor ihm niederzuwerfen, zum Anlass nimmt, nicht nur gegen Mardochai, sondern gegen alle Juden gewaltsam vorzugehen.

Rembrandt–Schule um 1660: Haman vor Esther. Quelle: Rembrandt Bijbel. Bd. 1: Oude Testament. Amsterdam 1910, nach S. 100 (Sign.: Theol. 2° 691 (1) M). Das Original des Ölgemäldes befindet sich im Muzeul Național de Artă al României, Bukarest. Umstritten ist die Identifikation des knienden Mannes; es könnte sich auch um Mordechai handeln

Der Königin Esther aber, die bislang ihre jüdische Abkunft beim König verschwiegen hatte, gelingt es, diesen zu einem gerechten Urteil zu überreden: nicht der treue Mardochai, sondern der Schurke Haman wird hingerichtet, der Befehl, die Juden zu vertilgen, widerrufen, ja sie erhalten die Erlaubnis, blutige Rache an ihren Feinden zu nehmen. Den gerade vor dem Galgen geretteten Mardochai erhebt der König zum zweiten Mann des Reiches.

Die märchenhafte Geschichte, dass Verachtete und Verfolgte über ihre Feinde triumphieren, schließt mit der feierlichen Einsetzung eines Festes, das daran erinnert. Purim heißt das Fest der Freude, an dem man Geschenke verteilt und das Buch verlesen wird, in dem jene Ereignisse aufzeichnet sind: das Buch Esther, Bestandteil der hebräischen Bibel und damit aller ihrer Übersetzungen.

Mit Esther kommt in unserer Reihe eine weitere Frauengestalt in den Blick: Die Außenseiterin, die durch glücklichen Zufall an die Spitze der Gesellschaft gelangt, in diesem Fall an die Seite des Großkönigs, und mit umsichtiger Klugheit ein schlimmes Unrecht abwendet. Esther, das ist die sanfte Heldin, die Retterin ihres Volkes, ohne dafür das Schwert zu ziehen. Das unterscheidet sie von der Figur der schönen Judith, die einen gefährlichen Gegner erst betört, dann tötet – davon später einmal. Die Erzählung von Esther stellt die Welt, wie wir sie kennen, geradezu auf den Kopf. Aber wenigstens im Märchen wird wahr, was im Leben unwahrscheinlich ist.

Titelblatt der Ausgabe 1543 („In Epistolam Pauli Ad Philemonem et in historiam Esther commentarioli. Autore Ioanne Brentio“), oben mit handschriftlichem Besitzvermerk Albert Hardenbergs. Signatur der JaLB: Theol. 8° 0118 H.

Die Johannes a Lasco-Bibliothek kann selbstverständlich nicht mit einer Schriftrolle aufwarten, die einst in einer Synagoge im Gebrauch war, wie sie derzeit das Ostfriesische Landesmuseum präsentiert. In ihren Beständen findet sich aber ein Kommentar des lutherischen Theologen Johannes Brenz (1499 bis 1570), der 1543 in der freien Reichsstadt Schwäbisch Hall erschienen ist. Albert Hardenberg (1510 bis 1574), der seine sieben letzten Lebensjahre in Emden verbrachte, besaß das Buch (Signatur: Theol. 8° 0118 H).

Brenz, ein umfassend gebildeter Theologe aus dem Schwäbischen, der nicht nur die lateinische und griechische Sprache beherrschte, sondern auch Hebräisch konnte, interpretierte die Schrift im Sinne des Humanismus reformatorischer Prägung. Die theologische Bedeutung eines Textes sollte in größter Nähe zu seinem Wortlaut gefunden werden. Das hieß, verfügbares historisches Wissen über die Verhältnisse im Perserreich am Anfang des 5. Jahrhunderts vor Christus zu sammeln. Wer beispielsweise war der persische König, der lateinisch „Asverus“, griechisch „Artaxerxes“, hebräisch „Achaschwerosch“ heißt?
Brenz glaubte, dass es sich um Dareios I. handelt, einen Herrscher, der sich um 520 an die Macht geputscht hatte und zu einem glanzvollen König des persischen Reiches aufgestiegen war; für die heutige Forschung hingegen steht fest, dass sein Sohn Chaschayarscha gemeint ist, den wir aus der griechischen Geschichte unter dem Namen „Xerxes“ kennen. Dessen gewaltige Heere hatten die aufständischen Griechen nicht zu bezwingen vermocht, die Perser waren in der Seeschlacht von Salamis im Jahre 480 v. Chr. geschlagen worden.

Brenz kannte die Tragödie des Dramatikers Aischylos „Die Perser“ (472 v. Chr. aufgeführt), in der der Geist des verstorbenen Königs Dareios beschworen wird und der den Leichtsinn seines Sohnes Xerxes beklagt, sich auf das Abenteuer eines Krieges gegen die zu allem entschlossenen Athener eingelassen zu haben. Dareios war zwar Gegner der Griechen, in der europäischen Erinnerung galt er aber als kräftiger, tüchtiger und kluger Herrscher. Er war Gegner, aber kein Feind. Dass auch der König im Buch Esther offenkundig über Eigenschaften verfügte, die einen guten Regenten auszeichnen, dürfte zu Brenz‘ Entscheidung beigetragen haben, in ihm Dareios dargestellt zu sehen.

Der Anfang des Esther-Kommentars von Johannes Brenz

Auch wenn Brenz historischen Aspekten bei der Kommentierung des Buches nicht abgeneigt war, so suchte er nicht nach historischen Tatsachen um ihrer selbst willen. Sein Blick war ganz und gar ein christlich-theologischer. Er wusste genau, dass die Geschichte von der schönen und klugen Esther, dem treuen Mardochai und dem giftigen Haman nicht deshalb in der Bibel stand, um über das persische Imperium und die Gepflogenheiten am Hofe des Großkönigs zu informieren. Vielmehr gestattete sie, im Erzählten die eigene Lage wiedererkennen, den Ängsten einer ungeliebten und beargwöhnten Minderheit Ausdruck zu verleihen, dann aber auch den Hoffnungen auf wunderbare Rettung.

Für Brenz behandelte die Geschichte, die im fernen Persien spielte, in Wahrheit das große Thema, dass die „wahre Kirche“ von Gegnern umstellt ist, die sie zu vernichten trachten und dabei doch immer wieder gescheitert waren. Natürlich schrieb sich die damals noch kleine reformatorische Bewegung, der der Wind zuweilen kräftig ins Gesicht blies, in die Geschichte der verfolgten Juden ein, so dass man sich beim Lesen des Buches vor Augen stellte, dass Gottes Vorsehung ihre Vernichtung nicht zulassen werde, selbst wenn es zuweilen gar nicht danach aussah.

Völlig außerhalb des Gesichtskreises von Brenz blieb deshalb das Judentum seiner Zeit. Dass Purim ein Fest war, das trotz Vertreibung aus zahlreichen Territorien und Städten des Reiches noch immer hier und da begangen wurde, erwähnte Brenz nicht, vielleicht wusste er nicht einmal davon. Da das Esther-Buch ja über die verfolgte Kirche sprach, war für die lebenden Juden kein Platz: gedacht wurde ihrer nicht in gehässiger, geschweige denn in freundlicher Weise. Auch über die Person jener Esther machte er sich keine Gedanken.

Wie aber soll man sich überhaupt diese junge und zweifellos beeindruckend schöne Frau vorstellen, die ihre Herkunft bislang verschwiegen hatte, aber im Moment der höchsten Gefahr zur Fürsprecherin ihres bedrohten Volkes und dann auch erhört wird? Sehr lange blieb sie die bloß märchenhafte Figur, eine weibliche Gestalt, die Züge einer Heiligen trägt, insbesondere bei christlichen Autoren: Bei dem spanischen Dramatiker Lope de Vega (1562 bis 1635) und bei dem großen französischen Tragödiendichter Jean Racine (1639 bis 1699) erscheint sie als fromme Retterin aus höchster Not, die den dunklen Hintergrund bösartiger Intriganten überstrahlt. Esther, das ist die Überlegene, die schöne und kluge Ratgeberin.

In einem heute vergessenen Jugendstück, „Das Jahrmarktsfest zu Plundersweilern“ hat Johann Wolfgang von Goethe volkstümliche Gestaltungen des Estherstoffes aufgegriffen: Auf feuchtfröhlicher Kirmes tragen hier Schausteller mit zwei Akten einer kurzen Esther-Persiflage zu Kurzweil bei. In Haman und Ahasver werden aufgeklärte Herrscher verspottet, während Mardochai und Esther die über gottlose Reden erschrockenen Frommen darstellen, die Pietisten, die auf ihre Weise Anlass zu Gelächter geben.

Der Klamauk wäre kaum der Rede wert, wenn nicht Peter Hacks (1928 bis 2003) das Possenspiel 1973 in eine kluge (und durchaus derbe) Komödie umgearbeitet hätte. Freilich erscheint Esther hier als Frau, die – zunächst unwillig – ihren Rettungsauftrag erfüllt, indem sie mit ihrer erotischen Unwiderstehlichkeit den einfältig-behäbigen König zu lenken weiß. Gemeinsam mit dem weisen Mardochai übernimmt sie die Leitung eines dann wahrhaft aufgeklärten Staates: „Doch hoch beglückt das Land, wo Macht sich selbst entgleitet,/ Von Liebe eingelullt, von Weltweisheit geleitet“, schließt diese heitere Utopie.

Unter den vielen Bearbeitungen des Stoffes soll abschließend auf ein Fragment gebliebenes Stück „Esther“ des österreichische Dramatikers Franz Grillparzer (1791 bis 1872) hingewiesen werden, das 1868 uraufgeführt wurde. Die Bibliothek besitzt den Text unter der Signatur Philol. 8° 0380 (3) FH.

Franz Grillparzer. Radierung von Joseph Schmeller. Frontispiz des ersten Bandes der Gesammelten Werke, hg. von Rudolf Franz, Leipzig/Berlin [1903]. Signatur JaLB: Philol. 8° 0380 (1) FH

Wer Grillparzers Stück liest, das lediglich zwei Akte und den Anfang des dritten umfasst, deren Handlung bis zur schließlich erfolgreichen Brautwerbung des Königs um Esther reicht, betritt vertrauten Boden. Es sieht Menschen, deren Charakter er all zu gut kennt: unfähige und aufgeblasene Beamte und lebenskluge Alte, er sieht Personen, die zwar in bestimmten Rollen gefangen sind, aber auch über eine innere Kraft verfügen, sie zu überschreiten. Den König langweilen seine speichelleckenden Höflinge, er durchschaut ihre Untertänigkeit als verborgene Heimtücke.

Bereits die Trennung von seiner ersten Ehefrau geschah weniger auf Grund verletzter Ehre denn aus dem traurigen Erlöschen einstiger Liebe – kennzeichnend für zahlreiche bürgerliche Ehen des 19. Jahrhunderts. Esther hingegen erweist sich sowohl ihrem Vormund Mardochai, als auch dem König gegenüber als selbstbewusste junge Frau: Zwar lässt sie sich von den „Brautwerbern“ zur Präsentation der Schönsten des Landes mitführen, legt es aber auf die Gunst beim Herrscher nicht an. Sie, nicht der König, ist souverän. Er wirbt um die, die der Ehre eines königlichen Bettes nicht bedarf, sondern ihm als gleichsam ebenbürtige Frau entgegentritt. Das fasziniert ihn, und daraus entsteht die Liebe – von deren weiterem Verlauf wir freilich von Grillparzer nichts mehr erfahren.

Möglicherweise verkörpert Grillparzers Esther das Ideal selbstbewusster Frauen des 19. Jahrhunderts, die danach strebten, vom Rande der Gesellschaft in deren Mitte zu gelangen, Anerkennung zu finden, ohne dabei auf Gunsterweise angewiesen zu sein. Eine besonders unter gebildeten Frauen jüdischer Herkunft lebendige Vorstellung: Man denke an die Berliner Salonnière Rahel Varnhagen (1771 bis 1833) oder Grillparzers jüngere Zeitgenossin, die erfolgreiche Schriftstellerin Fanny Lewald (1811 bis 1889).

Wir wissen nicht, wie sich die Handlung weiterentwickelt hätte; durchaus möglich, dass das, was sich bis zum Ende des Textes als eine schöne, vielleicht allzu schöne Liebesgeschichte zwischen zwei Gleichen liest, ein jähes Ende nimmt. Dass also die Geschichte von der strahlenden Esther sich wandelt in die einer anderen Figur, die wir als „Jüdin von Toledo“ kennen. Auf sie, die schöne Jüdin, die eines Herrschers Gunst erobert und schließlich grausam fällt, wird im nächsten Beitrag zur Sprache kommen.

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Der Autor ist Wissenschaftshistoriker und Theologe. Nach dem Studium der evangelischen Theologie, Philosophie, klassischen Philologie und der Geschichte der exakten Wissenschaften in Berlin und Hamburg promovierte Dr. Michael Weichenhan 2002 über die „Supernova des Jahres 1572 und die Überwindung der aristotelischen Kosmologie“. In den Jahren danach arbeitete er an den Universitäten in Berlin, Frankfurt / Main und Darmstadt. Seit 2019 ist Weichenhan in Emden als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Johannes a Lasco Bibliothek mit dem Editionsprojekt „Zwischen Theologie, frühmoderner Naturwissenschaft und politischer Korrespondenz: Die sozinianischen Briefwechsel“ betraut.