Es war die Stadt, die in ihm lebte
Am 9. Februar wäre der Journalist und Dichter Johann Friedrich Dirks 150 Jahre alt geworden. Eine Würdigung.
Emden. Man sieht ihn förmlich vor sich, wie er durch das alte Emden geht. Korrekter Herrenanzug, Manschettenknöpfe an den Bündchen des weißen Hemdes. Vatermörder mit karierter Krawatte, Hut, vielleicht auch ein Handstock. Ab und an bleibt er stehen. Sinnend schaut er dann zu den markanten Fassaden der alten Häuser auf. Langsam geht er weiter durch die alten Straßen, überquert Brücken, blickt gewohnheitsmäßig zum Delft hinüber, bestaunt – wie stets – das alte Renaissance-Rathaus und lässt das Auge auf die Herrscherstatuen im Stadtgarten fallen.
„Ja,“ sagt er leise zu sich selbst und seufzt: „Well weet, waar ‚t gaud för ist.“ Ahnt er, dass nicht alles so bleiben wird? Dass die Zukunft nichts Gutes mehr bereithalten wird? Dass er bald Abschied nehmen muss von diesem alten Emden, das er so liebt? Dass er noch das zerstörte Emden erleben wird?
Im Abendfrieden liegt die alte Stadt
Im Dämmerschein der Gassen traumversonnen
Und wieder wie ein schönes Märchen hat
in ihren Zauber sie mich eingesponnen
Verse gehen ihm durch den Kopf. Sonderbarerweise denkt er sie auf Hochdeutsch. „Merkwürdig“, staunt er über sich selber, wo doch das bodenständige Emder Platt seine sprachliche Heimat ist. Aber der Emotionen, die jetzt aus ihm herausbrechen wollen, kann er sich nicht erwehren. Und er fügt sich diesem unbezwingbaren Gefühl.
Die hohen Giebelhäuser schaun mich an
Die Speicher auch, durch die die Winde jagen
Und leise fangen sie zu plaudern an
Von schönen Zeiten und Urvätertagen
Johann Friedrich Dirks war Redakteur, Autor, Dichter. Vor allem aber war er Emder. Das alte Emden ist in seinen Erzählungen und Gedichten immer die Hintergrundfolie, vor der er die Menschen agieren lässt: den eitlen Snieder Fink, den honorigen Senator Klockgeter, den konservativen Ratsherren Hero Thiemen oder auch den Seemann Käp’t Pott. Dirks bevölkert seine Erzählungen mit Typen, die ihm seine Phantasie eingibt – und doch sind es auch Charaktere, wie man sie in der Hafenstadt antreffen könnte. Dirks versieht sie aber mit einem gemeinsamen Maßstab des aus ihrer jeweiligen Sicht moralischen Handelns.
Durch alle Straßen lauf ich kreuz und quer
Und manchmal bleib ich stehen, um zu lauschen
Mir ist, als hör ich an dem steinern Wehr
Des alten Stromes ruheloses Rauschen
Dirks erlebte noch das in Jahrhunderten gewachsene Emden. Die raubmordenden Mansfelder, der spanische Feldherr Herzog Alba – sie hatten der Stadt nichts antun können. Sie barg sich sicher hinter dem hohen Wall mit seinen Bastionen und Mühlen, die verlässlich für Brot sorgten. Im Schutz dieser Wälle und des Wasser überstand die Stadt gute und schwere Zeiten. Dirks nimmt gleichsam die Essenz des Gemeinwesens „Stadt“ auf und bewegt sich in seinen Texten mit traumwandlerischer Sicherheit auf diesem seinem festen Grund.
Und manchmal auch vernimmt mein lauschend Ohr
Ein Schifferlied, wie es die Väter sangen
Wenn fröhlich sie durchs Hafentor
Nach langer Fahrt den Heimweg sind gegangen
Er muss schließlich erleben, dass nichts bleibend ist, dass der Grund trügerisch werden und das vermeintlich Sichere eine Illusion sein kann. Ersten und Zweiten Weltkrieg erlebt er. Und doch – wie Schatten einer verlorenen Zeit begleiten ihn die Erinnerungen an das Alte, Verlässliche bei seinem Gang durch die Stadt. Es ist keine Nostalgie, nichts Schwärmerisches, kein Jammern um Verluste. Es ist die Stadt, die in ihm lebt und die er nicht lassen wird. Niemals.
Und heimlich lug ich im Vorübergehen
In die versteckten Winkel ganz verwundert
Blieb denn die alte Zeit hier stille stehn?
Ging hier vorüber nicht so manch Jahrhundert?
In Dirks Dichtungen vereinen sich Melancholie und unverdrossenes Smüsterlachen mit einem geerdeten Humor. Aber auch zur Satire ist er durchaus fähig. In so fern fängt er ein, was er auf der Straße hörte und erlebte. Der Poet in ihm verachtet dieses direkte Wort nicht, aber er veredelt es, und es entsteht Literatur. Er ist dabei kein Naturalist wie Gerhard Hauptmann oder ein kongenialer Schöpfer wie Thomas Mann. Aber Dirks kann sich in seinen Dichtungen durchaus behaupten in diesem vertrackten 20. Jahrhundert. Viele seiner Sichtweisen gründen im 19. Jahrhundert, aber seine Erkenntnisse sind nicht veraltet – weil sich der Mensch grundsätzlich ja nicht ändert und weil ethische Fragen Bestand haben – egal, in welcher Zeit sie thematisiert werden.
Der alte Kirchturm blickt so steif und schwer
Weit über rote Ziegeldächermassen
Und plötzlich kommt von seiner Höhe her
Ein Glockenschlag und läuft durch alle Gassen
Dirks flaniert weiter. Große Straße, Steinstraße, Kirchstraße, Pelzerstraße. Hunderte Male ist er hier gegangen, kennt nahezu jeden Menschen hier – und wird von vielen erkannt. Unverdrossen saugt er auf, was er hört und sieht. „Moin Dirks“, wird ihm zugerufen, und : „Gauden Dag, Herr Redaktör!“ Innerlich muss er lachen, aber er mag eben die Menschen und schätzt ihre Schnörkellosigkeit.
In alle Winkel fällt er dröhnend ein
Und füllt mit hellem Jubel ihre Räume
Bis mählich er verhallt, und Stillesein
Hüllt wieder ein die Stadt und ihre Träume
Seine Spaziergänge wird er Jahre später in einer Serie in der Zeitung niederlegen, in der er als Schriftleiter arbeitete. Dabei wird deutlich, wie stark Dirks sich speziell dem Rathaus verbunden fühlte. „Fast jeder Raum und jeder Gegenstand erinnert mich an einen Abschnitt meines Lebens,“ vermerkt er selber. Als dieses Gebäude fällt, kommentiert Dirks: „Unersetzliches ging verloren. Mit tiefem Weh im Herzen standen wir inmitten der Ruinen.“
Dieses Bild wird Dirks verfolgen. Als er 1949 stirbt, hinterlässt er das Fragment eines Gedichtes – und wieder verfasst er es auf Hochdeutsch – so, als wolle er es nicht nur den Ostfriesen mitteilen, sondern vielen Menschen darüber hinaus:
Ich laufe still mit trüben Sinnen
Durch meine alte, liebe Vaterstadt
Und links und rechts und vor mir nur Ruinen
Die ihr ein grauser Krieg geschlagen hat.
Die heimlich stillen Winkel sind verschwunden
Die grauen Zeugen der Vergangenheit
Kein Glockenturm verkündet mehr die Stunden,
verstummt ist auch das Tag- und Festgeläut
Das Gedicht, das in den letzten Lebenstagen des Dichters geschrieben wurde, blieb Fragment. Doch wie jeder Torso ein Stück des Ganzen ist, sagen die wenigen Zeilen womöglich weit mehr aus, leiten sie doch atmosphärisch dicht den Blick ins Allgemeingültige. Doch Dirks konnte auch anders, feinfühliger, staunend vor der Größe seiner Neigung für seine Heimat. Dafür mag die letzte Strophe des Gedichtes „Ik gah as dör een Wunner“ stehen.
Ik gah as dör een Wunner
Mit Ogen hell un blied
Wat büst du moi, mien Heimat
In disse Vörjahrstied