„Engerhafe war am schlimmsten“
Engerhafe. Der Verein Gedenkstätte KZ Engerhafe e.V. wird am 25. Mai um 14 Uhr ein Haus eröffnen, das die Geschichte des KZ-Außenlagers erzählt, das aber den Blick auch weit darüber hinaus auf die Situation lenkt, die sich zeitgleich auf der ostfriesischen Halbinsel und den Inseln ereigneten. Das wurde bei einer Pressekonferenz des Vereins deutlich.
Dabei spielt eine große Karte, die im Treppenhaus der Gedenkstätte angebracht wurde, eine große Rolle. Sie zeigt, wie massiv die Region mit Lagern übersät war. Insgesamt hat der Bearbeiter der Karte, Alwin de Buhr, bisher 438 Lager an 231 Orten in Ostfriesland entdeckt, 51 davon allein in Emden. Die Karte wird noch digitalisiert und soll dann als Recherche-Anreiz für Interessierte dienen, die womöglich Kenntnisse über weitere Lager haben.
Die neue Gedenkstätte ist in mehrfacher Hinsich ein Unikat. Sie ist im vermutlich ältesten Steinhaus Ostfrieslands untergebracht. Sie bietet Einblick in eine Phase der Lokal- und Regionalgeschichte, die zunächst nur zögernd thematisiert wurde. Sie teilt sich das Haus mit der lutherischen Gemeinde, die dort einen Saal und Verwaltungsbüros betreibt. Die Sanitäranlagen und weitere Räume, aber auch den Eingang nutzen die beiden Einrichtungen gemeinsam. Pastorin Katharina Herresthal, die neben Engerhafe auch Wiegboldsbur und Forlitz-Blaukirchen betreut, ist sehr zufrieden, denn es gibt in ihrer vereinigten Gemeinde bereits viele Ideen, das neue Haus zu nutzen und mit Leben zu füllen. Dass die Gedenkstätte dabei auch immer mitgedacht wird, ist für sie klar – so sind zum Beispiel die Konfirmanden thematisch eingebunden.
Vereinsvorsitzende Hilke Osterwald erinnerte während einer Pressekonferenz an die Anfänge der historischen Erinnerungskultur in Engerhafe. Das Lager war mitten im dörflichen Leben angesiedelt. Der Stacheldraht vor der Haustür für jedermann zu sehen. Jeden Morgen schleppte sich der Zug der halb verhungerten Gestalten durchs Dorf nach Aurich zum Bau eines Panzergrabens, der Bestandteil des Friesenwalls sein sollte. Diese „chinesische Mauer“ auf ostfriesisch erwies sich, so sagt Hilke Osterwald, im weiteren Kriegsverlauf als „völlig bedeutungslos“. Aber die 2000 Menschen, die im viel zu kleinen Lager in Engerhafe kaserniert waren, erlebten im späten Herbst des Jahres 1944 zwei Monate lang die Hölle auf Erden – ohne sanitäre Einrichtungen, ohne ausreichende Nahrung, ohne Medikamente, ohne Betreuung und ausreichende Bekleidung. „Engerhafe war am schlimmsten“, wird viele Jahre später ein Überlebender, der im Krieg viele Lager erlebte, sagen, den eine Delegation aus Engerhafe in der Niederlanden aufsuchte.
Beim Festakt zur Einweihung am Sonnabend, 25. Mai, wird auch die Angehörige eines der 188 Toten sprechen, Ini Ringersma-van der Weij. Pieter van der Weij (Jahrgang 1910) arbeitete in der väterlichen Buchdruckerei, in der Schriften für den Widerstand gedruckt wurde. Der Vater und seine drei Söhne wurden verhaftet und nacheinander in verschieden Konzentrationslagern untergebracht. Pieter und sein Bruder Theunis kamen nach Engerhafe. Beide starben dort.
Exakte Informationen und vor allem Fotografien der 188 Toten konnte der Verein Gedenkstätte KZ Engerhafe nur mit viel Geduld und Recherchearbeit zusammentragen. Der Verein hat schon früh begonnen, Kontakt zu Angehörigen der Toten aufzunehmen. Es waren mehrere Menschen, die dazu beitrugen, dass die zwei Monate von Engerhafe überhaupt aufgearbeitet wurden. Einer von ihnen ist der Künstler Herbert Müller, der sich dem Thema zunächst über sehr zurückhaltende Versuche der Verbildlichung des Grauens näherte. Da sind schleichende Gestalten, die einen Wagen mit einem Toten schieben, Männer in Grau, die sich mühsam über die Wege bewegen. Dann gibt es im Engerhafe Gulfhof Ihnen eine erste Ausstellung.
Müller und einige Kollegen gestalten Grabtücher, auf denen die von den beiden gemalten fiktiven Abdrücke der Toten sich in unterschiedlicher Intensität abbilden. Diese Tücher werden im Gulf des Hauses, das sich zu der Zeit noch im Umbau befindet, aufgehängt. Und die Besucher wanderten durch diesen Totenwald – und ihnen wurde dabei erst bewusst, wie viele Menschen sich hinter der Zahl 188 verbergen. Der Verein, 2009 gegründet, gab den Toten ihre Namen zurück und holte sie so aus ihrer Anonymität. Es standen mit einem Mal Menschen vor Augen, die ein Leben hatten, dass ihnen auf grausame Weise genommen wurde. Schon früh, so sagt Hilke Osterwald sei klar geworden, dass die Alte Pastorei, die tatsächlich bis 2015 noch vom Ortspfarrer bewohnt war, Zentrum eines Ausstellungsprojektes werden sollte.
Die erste Ausstellung, noch ein Provisorium, war dort tatsächlich untergebracht. Ab 2020 wurde sie abgebaut, um Platz für die Sanierung und Erweiterung des Komplexes zu schaffen. Die Ausstellungsbereiche, die über einen Aufzug voll erschlossen sind, werden noch bestückt mit Dokumenten, Zeitzeugenberichten, Informationen. Zusätzlich ist für die nächsten Monate eine Ausstellung von Herbert Müller zu sehen, der vor allem seine frühen Arbeiten zeigt. Dies sei der emotionale Zugang zum Thema, sagt Müller, der unter anderem eine Auswahl seiner gigantischen Totenköpfe präsentiert, die Dokument eines Entwicklungszustandes sind. Die Toten aus dem Massengrab tragen lediglich Nummern. Deren Namen ließen sich erst später ermitteln.
Neben der Geschichte der zwei Monate in Engerhafe wird aber auch der Blick über den Tellerrand geworfen und auf die anderen Lager der Region gerichtet. Denn dort lebten Menschen, die an den Bunkern Emdens mitbauen mussten, die in der Landwirtschaft und in Unternehmen die Kriegswirtschaft am Laufen hielten, die in Rüstungsfirmen arbeiteten.
Die Veranstaltung am Sonnabend beginnt um 14 Uhr mit fünf Grußworten von der stellvertretenden Landtagsvizepräsidentin Meta Janssen-Kucz, der Geschäftsführerin der Stiftung niedersächsischer Gedenkstätten, Elke Gryglewski, dem Landrat des Landkreises Aurich, Olaf Meinen, und dem Superintendenten des lutherischen Kirchenkreises Aurich, Tido Janssen.
Ini Ringersma-van der Weij spricht aus Sicht einer Angehörigen über die Auswirkungen, die der Widerstand und die Verfolgung durch die deutsche Besatzung auf ihre Familie hatte und noch hat.
Herbert Müller wird sodann eine Einführung in seine Werke zum Thema geben, bevor Kuratorin Dr. Simone Erpel zur „Zwangsarbeit für die Wehrmacht“ spricht. Die musikalische Begleitung übernimmt der Engerhafer Gitarrenchor „GUTZUHÖREN“
► Eröffnung der Gedenkstätte (Altes Pfarrhaus Engerhafe, Kirchwyk 5, direkt gegenüber der Kirche) mit der Ausstellung „Zwangsarbeit für die Wehrmacht“: 25. Mai, 14 Uhr
► Die Gedenkstätte ist ab dem 28. Mai für alle Interessierten geöffnet. Geöffnet: Di bis So 14 bis 17 Uhr
► An jedem 1. Sonntag im Monat wird um 11 Uhr zu einer öffentlichen Führung eingeladen
► Am 22. Juni und am 17. August ist jeweils um 17 Uhr ein Künstlergespräch vorgesehen