Schwierige Physik in geschliffener Sprache

Serie: Verborgene Schätze der Johannes a Lasco Bibliothek, Teil 5

Von Michael Weichenhan

Titelblatt der Erstausgabe der „Elémens de la Philosophie de Neuton“, Amsterdam 1738. Signatur der JaLB: Philos. 8° 949M. Bilder: Udo Bleeker.

Emden. Es ist ein buchstäblich merk-würdiges Buch, in dem heute geblättert wird: Die Erstausgabe der „Elemens de la philosophie de Neuton. Mis à portée de tout le monde“ aus dem Jahre 1738. Verfasst und „allen zur Kenntnis gebracht“ hat die „Elemente der Philosophie Newtons“ der Erzaufklärer Voltaire (1694 bis 1778). Leider verrät das Exemplar mit der Signatur Philos. 8°949 M nichts über seinen einstigen Vorbesitzer – freilich soviel, dass er an dem Buch offenbar kein sonderliches Interesse gehabt hat. Nirgendwo finden sich Spuren der Benutzung.
























Buchrücken des Exemplars der JaLB.

Bemerkenswert sind an unserem Band nicht nur sein Inhalt – er wird später zur Sprache kommen-, sondern auch die Umstände, unter denen es sein Verfasser schrieb; nicht weniger erstaunlich ist seine Wirkungsgeschichte. Die knapp 400 Seiten, auf denen Grundgedanken der Naturphilosophie des Isaac Newton (1643 bis 1727) in eleganter und allgemein verständlicher Form dargestellt wurden, verhalfen ihr zur allgemeiner Bekanntheit, in Frankreich trugen sie entscheidend zur Verabschiedung vom bis dahin noch immer dominierenden System des René Descartes (1596 bis 1650) bei. Zunächst freilich bekam das Buch eben der Ablehnung des Cartesianismus wegen keine Druckerlaubnis; es erschien in Amsterdam. Doch beginnen wir mit einigen Bemerkungen zum Autor.







Das Portrait Voltaires zeigt ihn im Alter von 44 Jahren

Voltaire war im Grunde alles andere als ein Spezialist für die mathematische Physik des großen englischen Forschers. Einen Namen hatte er sich, als die Beschäftigung mit dem Gedankengebäude Newtons begann, bereits als Dichter von Satiren gemacht, von Tragödien, eines umfangreichen Epos auf den König Henri IV. (1553 bis 1610), aber auch als eine Person, die es liebte, im Rampenlicht zu stehen und dafür gern handfeste Skandale in Kauf nahm. Eine elf Monate währende Haft in dem berüchtigten Pariser Gefängnis, der Bastille, hatte er bereits 1717/18 hinter sich gebracht. Fortan zog er es vor, sich nach Möglichkeit den Übergriffen rachsüchtiger Gegner oder der Verfolgung durch die Justiz durch Flucht zu entziehen, ins Ausland oder zu einer einflussreichen Person, die Schutz bot. Zu wehren wusste er sich auf seine Weise – mit polemischen Ausfällen und beißendem Spott. Kurz: Voltaire war bereits im Alter von 30 Jahren jemand, von dem man sprach: mit Verachtung und Staunen, mit Abscheu und Bewunderung.

Eine Streitigkeit mit einem Adligen, der seine Ehre schwer gekränkt hatte, veranlasste Voltaire, im Mai 1726 für einige Zeit nach England auszuweichen. Damals war das eine Reise in eine fremde Welt. Frankreich war ein katholisches Land, in dem die Kirche, eng mit dem Königtum verbunden, beträchtliche Macht besaß; viele Intellektuelle, zu denen auch Voltaire zählte, pflegten eine spöttische Verachtung der Religion. In England hingegen hatte man sich mit der Vielzahl christlicher Gemeinschaften und Kirchen irgendwie abgefunden, die führenden Geister sahen sich weniger herausgefordert, die Religion als abergläubischen Unfug zu entlarven als Gott auf vernünftige Weise zu verehren.

Die Philosophie in Frankreich tendierte zum System, man könnte sagen, sie war an Erklärungen interessiert, die das Einzelne als Besonderheit des Allgemeinen erfasste. In England vertraute man eher auf den Wert dessen, was man beobachten konnte, man tastete sich vom Einzelnen zum Allgemeinen vor. Voltaire faszinierte das. Und er erlebte 1727 die prunkvolle Trauerfeier für den Mann, der dort auf Grund seines Geistes bereits zur Legende geworden war: Isaac Newton. Er begegnete einigen seiner zahlreichen Schüler, die sein Interesse auf ein Gebiet lenkten, das ihm bislang verschlossen gewesen war: die wissenschaftliche Erforschung der Natur.

Zwischen dem Aufenthalt in England und der Arbeit an den Elementen der Philosophie Newtons liegen rund zehn Jahre; nach seiner Rückkehr nach Frankreich im November 1728 setzte sich das Leben des geistreichen und nie um eine Provokation verlegenen Autors wie gewohnt fort: Wie der Held eines Abenteuerromans hetzte er von Schlappe zu Erfolg, von Triumph zu Niederlage. Auch die Entstehung jenes Buches über die Physik Newtons verdankt sich den Zufällen dieser Lebensführung, die eine erstaunliche Produktivität und rastlose Unruhe vereint.

Im Sommer 1734 hatte er, einmal wieder auf der Flucht, Zuflucht im Schloss einer Dame gefunden, mit der ihn in den folgenden Jahren eine sowohl geistige wie erotische Beziehung verband. Émilie de Châtelet (1706 bis 1649) war eine in jeder Hinsicht bewundernswerte Frau: Sie beherrschte nicht nur die als standesgemäß geltende Bildung auf den Gebieten von Musik, Sprachen und Literatur, sie war auch der Mathematik, Philosophie und Physik mehr als bloß kundig, sondern in der Lage, das Hauptwerk Newtons, die „Principia mathematica philosophiae naturalis“ (Mathematische Prinzipien der Naturphilosophie), zu verstehen, zu übersetzen und kritisch zu kommentieren. Ohne ihren Scharfsinn und ohne ihr Wissen hätte Voltaire seine „Elemente“ nicht schreiben können.

Newton in den Wolken, Voltaire am Schreibtisch – so sieht das Frontispiz der Ausgabe aus.

Als Mitverfasserin ist sie nicht genannt, Voltaire aber hat ihr das Buch gewidmet und mit einer Vorrede versehen, die tiefe Verehrung zum Ausdruck bringt: „Das gründliche Studium zahlreicher Wahrheiten, das Sie betrieben haben, und die Früchte einer ehrenvollen Arbeit sind das, was ich der Öffentlichkeit zu Ihrem Ruhm, zum Ruhme Ihres Geschlechts und zum Nutzen eines jeden, der seinen Verstand schulen und sich ohne Mühe an Ihren Forschungen erfreuen möchte, vorlege.“

Das Frontispiz veranschaulicht die Verhältnisse auf seine spezielle Weise. Oben thront Newton, dargestellt in einer Position, die gewöhnlich Gott zukam, unten sitzt schreibend Voltaire. Die gleichsam göttliche Weisheit vermittelt dem mit Lorbeer umkränzten Autor eine Göttin, nach antikem Vorbild teilweise unbekleidet und von Genien umgeben. Das Huldigungsgedicht, das der Vorrede voransteht, nennt Madame de Châtelet die „Minerva Frankreichs“. Minerva war die Göttin der Weisheit. Das Licht, das auch Newton bestrahlt, wird von ihr in einem Spiegel reflektiert und in die Kammer gelenkt, wo Voltaire, umgeben von wissenschaftlichen Instrumenten und Büchern, sein Werk verfasst. Kein Zweifel: Es war Émilie de Châtelet, von der er den Geist der Naturwissenschaft Newtons nicht allein zu bewundern, sondern zu erfassen gelernt hatte.

Allegorische Darstellung der Émilie de Châtelet und Beginn des Huldigungsgedichtes an sie

Was steht nun in dem Buch? Zwei Themenkreise sind es, die Voltaire behandelt: Die Optik und die Gravitation. Der Teil, der sich mit Licht und Farben befasste, gab ihm Gelegenheit, die herkömmlichen Lehren über das Licht, insbesondere diejenigen Descartes‘, als unverständlich oder widersprüchlich zu verspotten. Selbstverständlich gab er ausführlich die zentrale These Newtons wieder, weißes Licht lasse sich durch Brechung in einem Prisma in seine farbigen Bestandteile zerlegen. Farbe ist damit unmittelbar mit dem Licht verbunden, vor allem aber sind die Farben keine Veränderungen des Lichtes, keine Abschwächung, wie man lange Zeit geglaubt hatte, sondern Bestandteile des weißen Lichtes.

Mit der Gravitationskraft hatte Voltaire einen wichtigen Begriff der Mechanik Newtons gewählt. Aus der Schule kennen wir sie (F) als die Beziehung zwischen zwei Massen (m1, m2) in einem bestimmten Abstand r, und zwar in dieser Form: F=(γ ⸱ m1 ⸱ m2) : r². Der Buchstabe γ bezeichnet dabei lediglich eine Konstante, die „Gravitationskonstante“. Man sieht sofort, dass die Größe dieser Kraft direkt mit der Größe der beteiligten Massen zusammenhängt, sich aber mit Vergrößerung des Abstandes verringert. Eine faszinierende Kraft, vor allem deswegen, weil sie, anders als Druck und Stoß, über Distanzen wirkt; sie wirkt zwischen allen Körpern des gesamten Universums. Nach Meinung vieler Kritiker Newtons haftete ihr etwas Geheimnisvolles an, manche sahen in ihr die Wiederkehr längst überwunden geglaubter magischer Kräfte. In jedem Falle war sie der Begriff, an dem sich die Physik Descartes’ und Newtons am deutlichsten unterschieden.

Die Newtonsche Lichtbrechung: Der weiße Lichtstrahl wird gebrochen und dabei in seine farbigen Bestandteile zerlegt: Es entstehen an einem Schirm die Farben Purpur, Blau, Grün, Gelb, Orange, Rot. Das oben dargestellte Violett gehört nicht in dieses Spektrum

Wer einst Voltaires Buch las, bekam eine in der geschliffenen Sprache eines brillanten Dichters gestaltete Einführung in die schwierige Physik und Kosmologie Newtons; er wurde informiert über eine revolutionäre Theorie des Lichtes und die nicht minder revolutionären Gedanken, wie und warum sich Körper so bewegen, wie sie sich bewegen, ganz gleichgültig, ob es sich um einen vom Baum fallenden Apfel, ein Pendel oder die Monde handelt, die um einen Planeten rotieren, die wiederum Bahnen um die Sonne beschreiben.

Was damals umstürzend war, ist heute weitgehend Schulstoff. Dennoch sind die „Elemente der Philosophie Newtons“ ein noch immer lesenswertes Buch, auch wenn man zwischen Newton und dem Newton Voltaires unterscheiden muss. Geführt von der klugen Mathematikerin hat Voltaire seiner Faszination für die Klarheit und Schönheit der Naturwissenschaft Ausdruck verliehen, und zwar so, dass man sich ihr nicht entziehen kann, auch nach fast 300 Jahren nicht.

Die „Elemente der Philosophie Newtons“ sowie zwei später erschienene Schriften Voltaires über Newton lassen sich heute in einer kommentierten deutschen Übersetzung lesen, die 1997 erschienen ist.

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Der Autor ist Wissenschaftshistoriker und Theologe. Nach dem Studium der evangelischen Theologie, Philosophie, klassischen Philologie und der Geschichte der exakten Wissenschaften in Berlin und Hamburg promovierte Dr. Michael Weichenhan 2002 über die „Supernova des Jahres 1572 und die Überwindung der aristotelischen Kosmologie“. In den Jahren danach arbeitete er an den Universitäten in Berlin, Frankfurt / Main und Darmstadt. Seit 2019 ist Weichenhan in Emden als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Johannes a Lasco Bibliothek mit dem Editionsprojekt Zwischen Theologie, frühmoderner Naturwissenschaft und politischer Korrespondenz: Die sozinianischen Briefwechsel“ betraut.