Eine Schatzkiste wurde gehoben

Emden. Der wieder aufgefundene sogenannte „Zettelkasten“ der Gesellschaft für bildende Kunst und vaterländische Altertümer (1820dieKUNST) ist noch nicht abschließend ausgewertet und kann noch viele Überraschungen bergen. Das wurde im Rahmen eines Vortrags der Historikerin Berit Tottmann deutlich. Sie hatte die rund 4000 Zettel, die der Kasten enthält, im Sommer 2021 digitalisiert (KiE berichtete). Der Provenienzforscher am Ostfriesischen Landesmuseum, Magister Georg Kö, meinte: „Wir haben die Schatzkiste zwar gehoben, aber die Arbeit im Detail muss noch folgen.“ Er gehe aber schon jetzt davon aus, dass der Zettelkasten für die Feststellung der Herkunft einzelner Objekte im Ostfriesischen Landesmuseum neue Erkenntnisse bringen könnte.

Alles eine Frage der Haltung: Berit Tottmann vor dem offiziellen Jubiläumsplakat von 1820dieKUNST. Bild: privat

Berit Tottmann hatten ihren Vortrag in vier Thesen gegliedert, anhand derer sie das ungewöhnliche Exponat vorstellte.

1. Der Zettelkasten ist ein „unvollendetes Produkt“ des damaligen Kurators am Ostfriesischen Landesmuseum in der Großen Straße, Jan Fastenau, gewesen. Fastenau (1880 bis 1945) sei im Zuge einer Umgestaltung des Museums zur Volksbildungsstätte eingestellt worden, um die Exponate im maßlos überfüllten Haus zu sichten. Hinweise auf den Zetteln lassen darauf schließen, dass der Wissenschaftler sich durch die einzelnen Räume arbeitete und dabei systematisch jedes Objekt – mit Ausnahme der Münzen und Gemälde – erfasste und auf durchnummerierten Zetteln vermerkte. Vielfach legte er auch eine kleine Zeichnungen an. Allerdings fehlen bestimmte Räume, von deren Existenz man weiß, so dass gemutmaßt werden kann, dass Fastenau in seiner Arbeit unterbrochen wurde.

2. Die Systematisierung wurde nicht abgeschlossen: Fastenau hat innerhalb des Zettelkastens drei unterschiedliche Ordnungssysteme angelegt und damit eine Momentaufnahme des wissenschaftlichen Arbeitens seiner Zeit dargestellt. Er fasste die Zettel in Päckchen zu 10, 50 und 100 Stück zusammen, die er entsprechend nummerierte. Das zweite System ist eine sogenannten Steilkartei, wie man sie auch heute noch kennt. Warum Fastenau diese übersichtliche Art und Weise nicht zum grundlegenden Prinzip seiner Arbeit machte, ist nicht bekannt. Man könne aber vermuten, so Berit Tottmann, dass Fastenau – aufgrund seiner Kündigung im Jahr 1933 – nicht mehr dazu gekommen sei, alle Ergebnisse in eine Steilkartei zu überführen. Im dritten Ordnungssystem – wohl auch eine eine Art der Vorarbeit – sammelte Fastenau die Zettel in beschrifteten Briefumschlägen.

3. Fastenau hat die Objektdokumentation nicht nur eigenhändig angelegt, sondern auch selber einsortiert. Es sei nicht nachvollziehbar, ob die KUNST überhaupt von seinem Tun gewusst habe, sagte Berit Tottmann. Denn es ging damals die Rede, dass Fastenau faul sei und die verabredete Arbeit nicht erledigt hätte. Immerhin gab es einen Mann, der wohl informiert war – Otto Rink. Eine Banderole im Kasten trägt seinen Namen. Rink war ab 1940 Geschäftsführer der KUNST und zuständig für die Akquise von Raubkunst.

Die Kiste, in der Fastenau seine Zettelsammlung anlegte, ist legendär, trägt sie doch die Aufschrift „Grimersumer Kiste“. Es handelte sich also um eine Urkundenkiste der Familie Beninga. Die Kiste war offenbar leer und wurde von Fastenau zweitverwertet. Das sei durchaus nicht nötig gewesen, meinte die Historikerin Tottmann. Es hätte damals durchaus professionelle Alternativen gegeben.

4. Fastenau hat für seine Arbeit keine Anerkennung bekommen. Da Fastenau Kunsthistoriker, nicht aber Altertumsforscher war, und die Sammlung sehr viele „Altertümer“ enthielt, holte er sich fachliche Hilfe bei dem niederländischen Archäologen Albert van Giffen. Doch die KUNST war auch damit nicht zufrieden und „meckerte“. Fastenau arbeitete indes weiter und erwanderte zudem das gesamte Ostfriesland, weil er eine Kunstgeschichte der Region schreiben wollte und dies auch realisiert hat. Diese handschriftliche Arbeit befindet sich heute in der Landschaftsbibliothek. Der Zettelkasten als ein intellektuelles Projekt wurde von den Nachfolgern Fastenaus nie genutzt und geriet in Vergessenheit, resümierte Berit Tottmann. Für die heutigen Wissenschaftler am Ostfriesischen Landesmuseum seien die Aufzeichnungen von größter Bedeutung, erklärte Kuratorin Dr. Annette Kanzenbach. Eine ganze Reihe von Objekten ließe sich mit Hilfe der Zettel identifizieren. Vor allem aber könne man nun eine Verlustliste anlegen.

Neben sechs Mitarbeitern des Hauses und des KUNST-Vorstandes waren sechs Besucher zum Vortrag gekommen. Doch gerade wegen der kleinen Runde entspann sich nach dem Vortrag eine lebhafte Diskussion, in der KUNST-Mitglied Horst Arians darauf verwies, dass das Vorhandensein des Zettelkastens durchaus nicht gänzlich unbekannt gewesen sei. „Bernhard Brahms hat immer davon gesprochen, dass es einen Zettelkasten gibt.“ Brahms, gestorben 2019, war sehr lange Mitglied im KUNST-Vorstand und galt als ein Kenner der ostfriesischen Geschichte.

► Ein Vortrag zum Zettelkasten wird im nächsten Emder Jahrbuch veröffentlicht, das im Mai erscheint.
► Wer sich für Zettelkästen interessiert, wird fündig bei Markus Krajewski „Zettelwirtschaft: Die Geburt der Kartei aus dem Geiste der Bibliothek“, Kulturverlag Kadmos, 224 Seiten, 19.90 Euro, ISBN 3-865-992-145