Über die Kraft der Inspiration
Der in Norden lebende Künstler Ricardo Fuhrmann stellte in Emden ein neues Projekt vor
Emden. Wenn der in Norden lebende, argentinische Künstler Ricardo Fuhrmann über seine Emder Großmutter Amalie Fuhrmann, geborene Weinberg, spricht und liest, dann ist es ein Vergnügen ihm zuzuhören, obwohl das Lesen nicht sein Hauptmetier ist. Fuhrmann ist als Künstler international tätig, und seine Ideen zeugen von großer Kreativität. In diesem Fall hatte er sie in ein Buchprojekt samt zugehöriger Ausstellung umgesetzt. Eine Lesung daraus und eine witzige Präsentation aus Fotos und Klein-Installationen erlebte ein geladenes Publikum am Sonntagmorgen (19. Juni) in der Johannes a Lasco Bibliothek.
Ricardo Fuhrmann und sein Künstlerpartner Daniel Jelin wollten aber literarisch nicht von der Großmutter und ihrem reichen Schatz an Geschichten berichten. Dieses war nur der Anlass für die künstlerischen Überlegungen. Allerdings ist die Vita der alten Dame so eindrucksvoll, dass sie das Vorwort des Buches füllt.
Amalie ist mit der Familie 1938 aus Emden nach Buenos Aires geflohen. Die Fuhrmanns haben sich dort in einem Vorort – mit einer Vielzahl ebenfalls geflüchteter Deutschen jüdischen Glaubens – heimisch gemacht. Umgeben von Relikten der verlorenen Heimat, begann Amalie irgendwann in den 60er Jahren ihrem Enkel Geschichten zu erzählen – von ihrer Lieblingsinsel Norderney, von dem Wattenmeer und von den Gezeiten. Für den damals Vierjährigen waren das phantastische Geschichten, deren Wahrheitsgehalt ihm unklar blieb.
Als Fuhrmann sich in den 90er Jahren in Norden ansiedelte, wenige hundert Meter entfernt von dem Ort, wo es ein Wattenmeer mit Ebbe und Flut gab, rückten die Erzählungen der 1898 geborenen Großmutter immer stärker in den Fokus, obwohl ihm nur Erinnerungsfetzen geblieben waren. Ein wesentliches Element der Geschichten aber war ihm lebhaft im Gedächtnis geblieben: Es gab ein Meer, das verschwindet und nach einer gewissen Zeit zurückkommt, und er, Fuhrmann, hatte es nun wirklich vor Augen und konnte das Naturphänomen verfolgen – und mit ihm arbeiten.
Dabei nutzte er das schmale Erinnerungsband als Inspiration für Neues. Eigentlich sollte es ein Kinderbuch werden, berichtete er den Gästen. Doch dann suchten er und Daniel Jelin nach einer Form, um seine Erinnerungsbruchstücke zu verbinden. So habe man Neues gewagt und eine vor Skurrilität und Kuriosität strotzende, reich illustrierte Erzählung entwickelt, die in einfacher Sprache ihren eigenen Zauber entfaltet.
„Phantastische Wattwanderung“ ist der Titel des Buches und der Ausstellung, die bis zum 3. Juli in der Johannes a Lasco Bibliothek zu sehen ist. Das Buch ist für 20 Euro im Lesezeichen, im KUNST-Laden des Ostfriesischen Landesmuseums und in der Bibliothek zu bekommen.
Das gesamte Projekt steht im Zusammenhang mit dem Festjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“. Gefördert wurde es vom Bundesinnenministerium. Die Organisation hatte die Max Windmüller-Gesellschaft übernommen. Dessen Mitglied, Gero Conring, hatte sich mit großem Aufwand um die Realisierung gekümmert. 394 E-Mail-Kontakte und eine Vielzahl von Telefonaten führten schließlich zum Erfolg. Daher bedankte sich Ricardo Fuhrmann gesondert bei ihm: „Gero, Du hast ein offenes Herz.“
Oberbürgermeister Tim Kruithoff betonte, jüdisches Leben sei zwar mit dem Zweiten Weltkrieg in Emden zu Ende gegangen, aber die Stadt sei bereit, die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass es wieder möglich werde.
► Ausstellung „Phantastische Wattwanderung“ in der Johannes a Lasco Bibliothek, bis zum 3. Juli, Öffnungszeiten: täglich 14 bis 17 Uhr