Ein Philosoph, den man wirklich gelesen hat

Serie über die Schätze aus der Johannes a Lasco Bibliothek, Teil 10

Von Dr. Michael Weichenhan

Emden. Sechs kleine Bände, im Reclam-Oktavformat 10 x 15,8 Zentimeter: „Arthur Schopenhauers Sämtliche Werke in sechs Bänden“. Das Erscheinungsjahr fehlt, die Ausgabe, die sich im Besitz der Johannes a Lasco-Bibliothek befindet, stammt von 1924, wie aus dem handschriftlichen Eintrag des Vorbesitzers R. Langemann hervorgeht, der sie am 24. Juli 1924 erworben hat.

Claudia Renn, in der Johannes a Lasco Bibliothek zuständig für Haushalt und Finanzen, liest in einem der Bände der Schopenhauer-Ausgabe von 1924. Links die Bände der Ausgabe von 1988. Bilder: Udo Bleeker

Um eine bibliophile Kostbarkeit handelt es sich nicht: Die Ausgabe des Reclam-Verlages Leipzig, die von 1921 bis 1924 in dritter Auflage erschien, besitzt keinen besonderen Rang, sondern reiht sich ein in die zahlreichen Schopenhauer-Editionen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf den Markt kamen. Ihr Herausgeber, der Diplomat und Schriftsteller Eduard Grisebach (1845 bis 1906), hatte für die stetig wachsende Zahl von Interessenten und Verehrern des Philosophen Schopenhauer eine handliche und preisgünstige Ausgabe herstellen wollen. Dabei hatten Verlag und Herausgeber die Bedürfnisse eines nicht fachkundigen Publikums im Blick; griechische, lateinische und englische Zitate waren in einem Anhang übersetzt.

Schopenhauer ist einer der ganz wenigen Philosophen gewesen, die man wirklich gelesen hatte. Sein recht schmales Oeuvre fand sich in den Bücherschränken des Bürgertums, vermutlich neben Werken von Theodor Fontane, Theodor Storm, Wilhelm Raabe, später dann von Thomas Mann und Hermann Hesse. Es sind also nicht die Bände selbst, die diese Ausgabe bemerkenswert machen, es ist einzig und allein der Text, der die Aufmerksamkeit verdient.

Arthur Schopenhauer, geboren 1788 in Danzig, 1860 in Frankfurt am Main verstorben, gilt als Philosoph des Pessimismus. In der Tat galt ihm die Welt als düsteres Jammertal, aber eines, aus dem es kein Entkommen in eine lichtdurchflutete Höhe gab. Die Hoffnung auf ein Himmelreich, wie sie das Christentum lehrte, hielt er für leere Träumerei und Zeichen geistiger Schwäche. Versprechen, hier auf Erden schon das Himmelreich errichten zu wollen und den Himmel getrost Engeln und Spatzen zu überlassen, wie sie etwa sein Zeitgenosse Heinrich Heine gab, erschien ihm als frivoler Unfug, der blutig scheitern musste.

Aufgabe des Philosophen war es nicht, phantastische Luftkonstruktionen zu produzieren und an deren zwangsweiser Verwirklichung mitzuwirken, sondern sich abzufinden mit der Welt, wie sie nun einmal war, nämlich in hohem Maße unvollkommen. Wenige Jahre vor seinem Tod äußerte er in einem Gespräch: „Eine Philosophie, in der man zwischen den Seiten nicht die Tränen, das Heulen und Zähneklappern und das furchtbare Getöse des gegenseitigen allgemeinen Mordes hört, ist keine Philosophie“.

Portrait Arthur Schopenhauer, Briefmarke der Deutsche Bundespost 1988 zum 200. Geburtstag

Man kann sich Schopenhauer kaum anders vorstellen denn als alten Mann, als den etwas skurrilen Greis mit weißer Mähne und Backenbart, der mit Grimm, Spott und Ekel auf die geschäftige Unvernunft der Zeit blickt, im übrigen das Leben eines einsamen Privatgelehrten führt, dessen finanzielle Unabhängigkeit ein bescheidenes Vermögen absichert. Aber die Grundlagen seines Denkens, die er niemals aufgegeben hat, hatte er bereits als junger Mann gelegt.

Sein „Pessimismus“ ergab sich nicht aus der Resignation eines Mannes, der an einer Universität nicht hatte Fuß fassen können, und er verdankte sich nicht dem Groll eines Gescheiterten. Die düstere Sicht auf die Welt, vor allem aber das tiefe Misstrauen gegen die hochfliegenden philosophischen Systeme des Idealismus entsprang der Begegnung mit der Philosophie Immanuel Kants (1724 bis 1804).

Titelblatt: Arthur Schopenhauer, Sämtliche Werke, herausgegeben von Eduard Grisebach, 3. Auflage, Leipzig o. J. [1924], Bd. 1. Signatur der JaLB: Philos. 8° 1420 (1) FH

Kant hatte in seiner „Kritik der reinen Vernunft“ der Philosophie Bescheidenheit verordnet: Seine Bestandsaufnahme dessen, was wir wissen können, hatte nicht allein die überkommene rationale Theologie zertrümmert. Auch von der Welt selbst, den Dingen „an sich“, wüssten wir nichts. Vielmehr sortieren wir die Erscheinungen, und eben nur die Erscheinungen, nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten. Wir blicken auf die Welt gleichsam durch ein Fenster, und zwar das Fenster unserer Sinneswahrnehmungen, die wir nach konstanten Regeln ordnen. Beispielsweise der, dass ein Ereignis eine Ursache hat und nichts von selbst geschieht.

Weil wir uns aber hinter dem Fenster aufhalten, entgeht uns womöglich viel von der Welt ringsherum, vor allem haben wir keinen direkten Kontakt zu den Dingen selbst. Sicheres Wissen gibt es nur innerhalb dieser Grenzen; Wissenschaft vollzieht sich im Raum der Erscheinungen. Nimmt sich aber die Vernunft zu viel vor, spekuliert sie über die ganz großen Fragen nach dem Ganzen und seinem Sinn, nach Gott und der Seele, gerät sie auf die Abwege bloßer Träumerei.

Nun schmeckte diese von Kant verabreichte philosophische Schonkost den um 1800 tonangebenden Denkern überhaupt nicht, und die großen Systeme der Fichte, Schelling und Hegel verdankten sich dem Impuls, auf einer von Kant gelegten Grundlage wiederum gewaltige Gedankengebäude aufzuführen, in denen die alten großen Themen erneut auftauchten: Gott, das Absolute, das Weltganze und dessen Sinn. Schopenhauer hielt das ausnahmslos für üble Taschenspielerei. Die Welt, von der wir einzig wissen, ist Erscheinung, nicht die wahre Welt, ja sie ist Produkt unserer Vorstellungen. Das gilt für die Gegenstände, die Objekte, ebenso für die, die diese Objekte vorstellen, die sogenannten Subjekte. Sofern die Rede ist von etwas, einem Sachverhalt oder einer Person, operieren wir mit Vorstellungen.

Das 1818 fertiggestellte Hauptwerk Schopenhauers heißt „Die Welt als Wille und Vorstellung“. Sind Vorstellungen das, was wir von der Welt wissen, so ist der Wille, was wir sind. Wille steht bei Schopenhauer für den dunklen Drang des Existierenden, sich zu erhalten und zu erweitern. Er wird erlebt, zum Beispiel als Erfahrung des eigenen Leibes, als Empfindung von Schmerz, Wut oder Lust. Schopenhauer, der mit der christlichen Religion nichts anzufangen wusste, fand in den Weisheitslehren Indiens, was den Kern seiner Ethik ausmacht: Streben nach Überwindung des Willens. Schopenhauers Ethik stellt deshalb den Verzicht höher als das Engagement für das vermeintlich Gute.

Im Unterschied zu vielen anderen war ihm klar, dass das, was man für fortschrittlich und gut ausgibt, auf Kosten von anderem durchgesetzt wird. Ein Beispiel: Wer am Anfang des 19. Jahrhunderts an eine mächtige Figur dachte, dachte an Napoléon. Für Hegel wie auch für Goethe verdichtete sich im französischen Monarchen und Eroberer der träge Strom der Geschichte in einen donnernden Wasserfall, in die Macht, die wie ein Orkan das Alte zerschlagen, neben Verwüstung aber auch eine über weite Strecken wohltätige neue Ordnung hinterlassen hatte.

Schopenhauer sah das anders: Napoléon verkörperte für ihn das Prinzip des Willens. Mochten Historiker und Philosophen dessen historischen Verdienste loben oder seine Herrschaft tadeln – für Schopenhauer, der sich klar darüber war, dass es solche Kraftgestalten stets gegeben hatte und immer wieder geben werde, spielten derartige Wertungen keine Rolle. Wichtig war die Einsicht, dass diese mächtige Gestalt ein gigantischer Zerstörer war.

Karriere hat Schopenhauer nicht gemacht, seine Feindschaft insbesondere gegen Hegel und wohl auch sein willensstarker Charakter – er war wegen seiner Schroffheit berüchtigt – standen dem im Wege. Mit der Zeit hat er sich damit abgefunden, ja daraus einen Vorzug gemacht. Anders als diejenigen, die sich um einer bezahlten Stelle wegen verbiegen und der Obrigkeit nach dem Munde reden mussten, hatte er seine Freiheit behalten. Er folgte keiner der wechselnden modischen Strömungen, sondern verfolgte mit wohlwollendem Interesse den Aufstieg der Naturwissenschaften, vertiefte sich in die klassische, französische, englische und indische Literatur und goss Hohn und Spott über die philosophischen Köpfe seiner Zeit.

Erst nach der Revolution von 1848, die er verabscheute, begann sein Ruhm allmählich zu wachsen. Zwei Bände mit philosophischen Essays, „Parerga und Paralipomena“ (Nebenarbeiten und Aufzeichnungen), fanden den Weg in ein breiteres Publikum jenseits der Universitätsphilosophie. In den brillant geschriebenen Texten fand eine politisch ernüchterte Leserschaft so etwas wie philosophisch abgeklärte Lebenshilfe, scharfe Beobachtungen und Reflexionen, gewürzt mit Bosheiten und funkelndem Witz, durchzogen von souverän eingesetzter Gelehrsamkeit.

Keine Kalenderspruchweisheiten aus der philosophischen Hausapotheke. Aufmerksames Mitdenken und Ernsthaftigkeit waren durchaus erforderlich, um folgen zu können. Schopenhauer bot auf seine Weise, was die meisten Philosophen der Antike bereits geboten hatten: Orientierung, die weniger sensationell als durch langes Nachdenken geläutert war. Er lehrte den hohen Wert der Kunst, um der harten Realität für kurze Zeit zu entfliehen, vor allem lehrte er, sich ohne Illusionen in dieser grauen Welt einzurichten, ohne an ihr zu verzweifeln.

Titelblatt: Arthur Schopenhauers Werke in fünf Bänden nach den Ausgaben letzter Hand von Ludger
Lütkehaus, Bd. 4, Zürich 1988. Signatur der JaLB: 08.24.20.815 (4)

In den letzten Jahren seines Lebens ist Schopenhauer zur Berühmtheit Frankfurts geworden; man besuchte das Lokal, in dem der Junggeselle täglich sein reichhaltiges Mittag einnahm, um ihm dabei zuzusehen und eventuell beim anschließendem Kaffee mit ihm in ein Gespräch zu kommen. Der erklärte Frauenverächter fühlte sich in der Gesellschaft gebildeter Damen wohl und ließ sich im letzten Jahr seines Lebens sogar herbei, der jungen Bildhauerin Elisabeth Ney (1833 bis 1907) für eine Büste Modell zu sitzen. Die selbstbewusste Künstlerin faszinierte den alten Schopenhauer. Seine „Aphorismen zur Lebensweisheit“, ursprünglich zu den „Parerga und Paralipomena“ zählend und später separat gedruckt, wurden zum Long- und Bestseller philosophischer Welt- und Lebensweisheit. Sieht man von Karl Marx ab, dessen Absichten denen Schopenhauers freilich denkbar weit entfernt waren, ist kein Philosoph des 19. Jahrhunderts von ähnlichem Einfluss wie Schopenhauer gewesen.


Der Autor ist Wissenschaftshistoriker und Theologe. Nach dem Studium der evangelischen Theologie, Philosophie, klassischen Philologie und der Geschichte der exakten Wissenschaften in Berlin und Hamburg promovierte Dr. Michael Weichenhan 2002 über die „Supernova des Jahres 1572 und die Überwindung der aristotelischen Kosmologie“. In den Jahren danach arbeitete er an den Universitäten in Berlin, Frankfurt / Main und Darmstadt. Seit 2019 ist Weichenhan in Emden als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Johannes a Lasco Bibliothek mit dem Editionsprojekt Zwischen Theologie, frühmoderner Naturwissenschaft und politischer Korrespondenz: Die sozinianischen Briefwechsel“ betraut.