Die Wunder der Welt
Serie über die bibliophilen Schätze der Johannes a Lasco Bibliothek, Teil 11
Von Dr. Michael Weichenhan
Emden. „Ich übergebe am späten Abend eines vielbewegten Lebens dem deutschen Publikum ein Werk, dessen Bild in unbestimmten Umrissen mir fast ein halbes Jahrhundert lang vor der Seele schwebte. In manchen Stimmungen habe ich dieses Werk für unausführbar gehalten: und bin, wenn ich es aufgegeben, wieder, vielleicht unvorsichtig, zu demselben zurückgekehrt.“
So beginnt der 75jährige Alexander von Humboldt (1769 bis 1859) die Vorrede des ersten Bandes eines Werkes, das den vielversprechenden Titel „Kosmos“ trägt. Der Untertitel erläutert: „Entwurf einer physischen Weltbeschreibung“. Vier Bände wird Humboldt zwischen 1845 und 1858 zum Druck bringen, der fünfte Band, 1862 erschienen, bietet nur noch ein Fragment, Nachträge und ein umfangreiches Register des Gesamtwerkes: Und dies umfasst, zählt man die Register nicht mit, rund 2400 Seiten Text.
An den einleitenden Sätzen fällt sogleich die Verschränkung von Selbstbewusstsein – das erste Wort lautet „ich“ – und zögerlicher Vorsicht auf. Mit einem für ihn typischen Wort wird Humboldt wenig später von der „Schüchternheit“ sprechen, mit der er das Werk der Öffentlichkeit vorlege. Man sollte das nicht nur als rhetorische Bescheidenheit abtun. Jene Verschränkung – oder auch: Spannung – zwischen der Person, die sich unübersehbar an ihre Leserschaft wendet und um Aufmerksamkeit nachsucht, und jenem Bedenken, dem seit langem gehegten Projekt nicht gerecht werden zu können, führt zu einem charakteristischen Zug des gewaltigen Werkes.
Er besteht kurz gesagt darin, dass es sich um die letzte bedeutende Darstellung der gesamten Welt handelt, vor allem freilich der unbelebten, die von einem einzigen Autor verfasst worden ist. Humboldt kannte sich auf den Gebieten der Botanik, der Geologie, der Astronomie und Physik nicht nur aus, er hatte in ihnen tatsächlich geforscht. Auf zwei großen Forschungsreisen war er den Zusammenhängen zwischen geologischen und geographischen Gegebenheiten und der Pflanzenwelt nachgegangen.
Zwischen 1799 und 1804 hatte er Mittelamerika erkundet, 1829 eine Reise durch die unermesslichen Weiten Russlands unternommen. Stolz vermerkte er, dass er nicht bloß die Küstenregionen ferner Länder in Augenschein genommen, sondern Landschaft und Vegetation tief im Landesinneren studiert hatte. In die Höhen der Anden war er ebenso vorgedrungen wie in die sibirischen Steppen und das Altai-Gebirge. Humboldt war ein bedeutender Gelehrter, der auf vielen Gebieten auf der Höhe der Zeit stand, und sein „Kosmos“ legt davon ein beeindruckendes Zeugnis ab. Zugleich ist es ein literarisch über weite Strecken ansprechendes Werk. Humboldt schrieb die schöne Prosa der Goethezeit. Kein anderer hätte ein vergleichbares Buch schreiben können. Dass Humboldt das wusste, markiert das erste Wort „ich“.
Freilich dürfte ihm auch klar gewesen sein, dass er damit am Ende einer Reihe von Gelehrten stand, die mit den griechischen Philosophen Platon (428 bis 348 v. Chr.) und Aristoteles (384 bis 322 v. Chr.) begonnen hatte. Der griechische Titel „Kosmos“, wir übersetzen das Wort einfach und farblos mit „Welt“, weist genau in diese Richtung. Der humanistisch gebildete Humboldt hörte – zu Recht – aus der Vokabel die Wohlordnung, die Harmonie, das geordnete Ganze heraus, das auf Grund seiner Ordnung schön ist. (Über den sprachlichen Zusammenhang zwischen „Kosmos“ und Schönheit klärt uns heute noch das Wort „Kosmetik“ auf.) Humboldts Anliegen bestand darin, die Welt in ihrer Gesamtheit zu erfassen, „die Erscheinungen der körperlichen Dinge in ihrem allgemeinen Zusammenhange, die Natur als ein durch innere Kräfte bewegtes und belebtes Ganze aufzufassen“, wie es in der Vorrede heißt.
Das klingt wie ein naturphilosophisches Programm, wie es auf der Grundlage eines sich stets verbreiternden Wissens am Anfang des 19. Jahrhunderts Goethe, Schelling oder Hegel vorgeschwebt hatte. Natürlich verfügte Humboldt, anders als die beiden genannten Philosophen, über detailliertes Wissen aus erster Hand. Dennoch ist nicht zu übersehen, dass der „Kosmos“ nicht nur ein Alterswerk, sondern ein zum Zeitpunkt seines Erscheinens bereits etwas verspätetes Werk war. Eines, in dem die Welt mittels vieler präziser Beobachtungen und zahlloser Informationen von einem überragenden Geist in den Blick genommen und zusammengeschaut wurde.
„In der Lehre vom Kosmos“, erklärt Humboldt, „wird das Einzelne nur in seinem Verhältniß zum Ganzen, als Theil der Welterscheinungen betrachtet“ (Band 1, S. 40). Aus seinem Werk spricht noch einmal der Geist des Universalgelehrten, der es vermag, das naturkundliche Wissen seiner Zeit in ein einziges Kolossalgemälde zu vereinen. Fachleuten freilich, sofern sie den „Kosmos“ lasen, hatte er weniger zu bieten. Eines der Anzeichen für die Mitte des 19. Jahrhunderts bereits etwas veraltete Perspektive Humboldts besteht im Absehen von evolutionstheoretischen Überlegungen, die er aus den Veröffentlichungen des französischen Zoologen Jean-Baptiste de Lamarck (1744 bis 1829) kannte, die bereits am Anfang des Jahrhunderts erschienen waren.
Dennoch wurde der „Kosmos“ ein enormer verlegerischer Erfolg: rund 87 000 Exemplare wurden verkauft, hinzu kommen noch zahlreiche gekürzte Ausgaben. Übersetzungen machten sein Werk jenseits der deutschen Sprachgrenzen bekannt, nicht nur ins Englische, Französische und Spanische, sondern beispielsweise auch ins Polnische, Russische und Ungarische. Sie alle wurden bereits während der Publikation der deutschen Erstausgabe begonnen. Der „Kosmos“ lässt sich deshalb getrost als Welterfolg bezeichnen.
Sein Einfluss auf die Vorstellungen über das Universum und die uns umgebende Natur war und ist beträchtlich. Vermutlich trägt er bis heute nicht wenig zu der Vorstellung von Natur als einem nicht nur schönen, sondern auch harmonischen Ganzen bei, das wir, angesichts der in der Tat verstörenden Eingriffe des Menschen in die Natur, als vollkommen, bedroht und schützenswert empfinden. Ohnehin erwartet man ja von einem Buch, das über 150 Jahre alt ist, keinen Aufschluss über den Stand des Wissens und der Forschung.
Woran Biologen, Physiker oder Astrophysiker gegenwärtig arbeiten, spielt sich in großer Entfernung zur Fassungskraft des nicht fachkundigen Publikums ab. Humboldts „Kosmos“ hingegen, der auf Vorträge für die interessierte Öffentlichkeit zurückging, öffnet noch immer die Augen für das Erhabene und die Wunder, die die natürliche Welt zu bieten hat, nicht weniger für das Staunen vor den Leistungen all derer, die im Laufe von Jahrhunderten in die Geheimnisse des Kosmos eingedrungen sind. Auch diejenigen, die keine Naturwissenschaft studiert haben, verstehen, wovon Humboldt spricht.
Wovon spricht er? Überblickt man den „Kosmos“, so geht Humboldt darin zweimal den Weg von den Gestirnen hinab zur Welt des Menschen, dem Planeten Erde. Einmal im Rahmen der „Naturgemälde“ überschriebenen Betrachtungen des ersten Bandes, in denen er mit wenigen Strichen, gleichsam einer Skizze, einen Umriss der gesamten Natur entwirft. Er gibt eine Ahnung von der ungeheuren Größe des Weltalls, in denen sich die Materie in Galaxien verdichtet. Einer von ihnen gehört auch unser Sonnensystem an, in dem wir den dritten Planeten bewohnen. Rasch wendet sich Humboldt diesem Planeten zu, seiner Beschaffenheit und seiner Gestalt, den geologischen und meteorologischen Erscheinungen, die sein Aussehen beständig verändern: der Gebirgsbildung, dem Vulkanismus, den Erdbeben, der in Wärme umgewandelten Lichtstrahlung der Sonne, den verschiedenen Klimaten und ihren spezifischen Vegetationen. Ausführlicher und stärker mit wissenschaftlichen Details angereichert geht er denselben Weg vom Himmelskosmos hinab zur Erde in den Bänden drei bis fünf.
Eine Sonderstellung nimmt der zweite Band ein, wahrscheinlich der am leichtesten zugängliche. Er thematisiert den Menschen als das Wesen, das teils intuitiv, teils erobernd, teils analytisch forschend die ihn umgebende Welt erkundet. Zeigt sich in den übrigen Bänden der große Entdeckungsreisende, der Wissenschaftler, so tritt hier Humboldt als Historiker der Kultur in Erscheinung. Er lenkt den Blick auf die Zusammenhänge zwischen Literatur, Landschaftsmalerei und dem Eindringen in die Geheimnisse der Natur, auf die durch Eroberungen und Handelsbeziehungen sich erweiternden Kenntnisse fremder Regionen.
Seine große Hoffnung bestand darin, dass die Welt durch Vernunft und Wissenschaft zu einer weitgehend friedlichen Einheit zusammenwachsen würde. Modell war dabei Europa. Und zwar dasjenige Europa, das nach dem Sieg über Napoléon zu einer haltbaren Friedensordnung gefunden hatte und dabei war, weltweit die Sklaverei abzuschaffen. Die Kriege, die zwischen den rivalisierenden Nationalstaaten um Kolonialbesitz z.B. in Zentralasien geführt wurden, hielt er wohl für wenig bedeutend; dass sie schließlich auch auf europäischem Boden geführt werden würden, konnte Humboldt nicht ahnen.
Der Autor ist Wissenschaftshistoriker und Theologe. Nach dem Studium der evangelischen Theologie, Philosophie, klassischen Philologie und der Geschichte der exakten Wissenschaften in Berlin und Hamburg promovierte Dr. Michael Weichenhan 2002 über die „Supernova des Jahres 1572 und die Überwindung der aristotelischen Kosmologie“. In den Jahren danach arbeitete er an den Universitäten in Berlin, Frankfurt / Main und Darmstadt. Seit 2019 ist Weichenhan in Emden als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Johannes a Lasco Bibliothek mit dem Editionsprojekt „Zwischen Theologie, frühmoderner Naturwissenschaft und politischer Korrespondenz: Die sozinianischen Briefwechsel“ betraut.