Beklemmende Geschichte, die tödlich endet

Serie über die bibliophilen Schätze der Johannes a Lasco Bibliothek, Teil 17

Von Dr. Michael Weichenhan

Emden. Die Reihe, die Bücherschätze der Johannes a Lasco-Bibliothek vorstellt, wird in den nächsten Beiträgen Frauengestalten in den Blick nehmen. Es geht in der Tat um Frauengestalten, nicht aber um Personen weiblichen Geschlechts, die irgendwann einmal gelebt haben mögen. Die Rede wird sein von Bildern, von Erfindungen, von anziehenden oder auch abstoßenden Charakteren, deren Trägerinnen nur in literarischen Texten existieren.

Heute: RAHEL, die Jüdin von Toledo

Die Geschichte der Jüdin von Toledo gleicht einer Rücknahme der Erzählung über Esther, deren Schicksal am 28. Oktober 2023 bei „Kultur in Emden“ vorgestellt wurde (https://www.kultur-in-emden.de/2023/10/28/eine-fuersprecherin-ihres-bedrohten-volkes/).

Diese führte uns in eine Welt, in der eine schöne und kluge Frau es vermag, das Herz eines Königs zu erobern, schließlich sogar die drohende Verfolgung des verachteten Volkes abzuwenden, dem sie selbst angehört. Eine tiefe Sehnsucht spricht sich hier aus, die Sehnsucht, dass Liebe nicht nur für kurze Zeit stärker ist als Vorurteile und Ressentiments, sondern die Kraft hat, sie überhaupt zu überwinden und einen freien Blick auf die Welt werfen zu lassen. Der persische König, der Esther liebt, schenkt ihr Gehör und begreift, wer in Wahrheit seine Feinde sind, nicht die geringgeschätzten jüdischen Exulanten, sondern die Schmeichler in seiner Umgebung.

Szenenbild aus der Inszenierung „Die Jüdin von Toledo“ des Tiroler Landestheaters 2022

Hingegen wird in der „Jüdin von Toledo“ kein schönes Märchen erzählt, sondern eine beklemmende Geschichte: Wieder verliebt sich der König in ein reizendes jüdisches Mädchen, doch es ist eine undenkbare, eine verbotene Liebe, die folgerichtig mit dem gewaltsamen Tod der jungen Frau endet.

Angesiedelt ist sie historisch auf der iberischen Halbinsel des 12. und 13. Jahrhunderts, auf der verschiedene christliche und muslimische Herrschaftsgebiete allermeist wenig friedlich nebeneinander existierten, konkret in der Stadt Toledo, die im Jahre 1085 den Muslimen von christlichen Heeren wieder abgenommen worden war.

Die iberische Halbinsel, auf der heute Portugal und Spanien liegen, war ein Gebiet, auf dem im Grunde ständig gekämpft wurde. Zwar war das anderswo kaum anders, die Besonderheit bestand freilich darin, dass hier das Streben nach Macht und deren Vergrößerung von einem dauerhaften Konflikt zwischen Islam und Christentum überspannt wurde, Territorialkriege deshalb sehr oft Religionskriege waren.

Zwischen diesen kriegerischen Parteien lebten zahlreiche Juden, die, vom männlichen Ideal des tapferen Kriegers ausgeschlossen, in Tätigkeiten gedrängt waren, die in Gesellschaften, die auf Kampf und Krieg ausgerichtet waren, wenig Ehre, auf der anderen Seite aber unter Umständen beachtlichen Reichtum einbringen konnten. Juden waren unter anderem Ärzte, Händler und Gelehrte, manche von ihnen erfolgreich und wohlhabend.

Sie waren geduldet, es gab von muslimischer wie christlicher Seite zwar eine Reihe diskriminierender Vorschriften, aber auch Bestimmungen, die sie schützten. Was man sich in der Welt der Nationalstaaten und ihrer Konflikte, also späterer Zeiten, kaum noch vorstellen kann, ist das Mit- und Nebeneinander unterschiedlicher Religionen und Völker, eine Koexistenz, die trotz eines regen kulturellen Austausches alles andere als konfliktfrei ablief.

Franz Grillparzer auf einer österreichischen Briefmarke, 1991

In dieser Umgebung, dem Kastilien im letzten Drittel des 12. Jahrhunderts, spielt also unsere Geschichte von der Jüdin von Toledo, die zunächst nur „Fermosa“, die Schöne, genannt wurde. Die ältesten Quellen reichen bis ins ausgehende 13. Jahrhundert zurück. Der König von Kastilien, Alfons VIII. (1155 bis 1214), so heißt es, habe eine schöne Jüdin geliebt und darüber seine Ehre als Ehemann und als Herrscher vergessen. Es liegt auf der Hand, dass die Verhältnisse nur wieder ins Lot gebracht werden können, wenn jene Geliebte beseitigt wird. Nicht indem man sie fortschickt, nein, erschlagen muss sie werden.

Es gibt zahlreiche spanische Bearbeitungen des Stoffes, auf eine von ihnen werden wir später zurückkommen. Eine Fassung, die sich in der Johannes a Lasco-Bibliothek befindet, ist recht jungen Datums, und sie entstammt dem deutschen Sprachraum: 1873 wurde die Tragödie „Die Jüdin von Toledo“ von Franz Grillparzer (1791 bis 1872) uraufgeführt. Es ist alles andere als zufällig, dass Grillparzer auch den Esther-Stoff dramatisch bearbeitet hat, gewisse Parallelen zwischen seiner Figur der Esther und der der Jüdin aus Toledo, die bei ihm den bereits eingebürgerten Namen Rahel trägt, sind offensichtlich. In beiden Fällen hat er sie angelegt als eine nicht allein schöne, sondern vor allem ganz ungebundene, freie, geradezu unbekümmerte, sehr junge, kurz: eine bezaubernde Frau.

Rahel ist für ihn zunächst ein Mädchen, das sich an Verkleidungen, am spielerischen Ausprobieren von Rollen erfreut; sie vertraut ihrem Charme, mit dem sie konventionelle Grenzen einfach überspringt: Sie dringt in den Garten des königlichen Schlosses ein, um das Königspaar einmal aus der Nähe zu sehen, was auch gelingt. Der selbst noch junge König fasst sogleich eine gewisse Zuneigung, während die Frau an seiner Seite, Königin Leonora, makellos und kalt bis ins Mark, sogleich die Gefahr wittert, die hier droht.

Grillparzer, der Dichter des 19. Jahrhunderts, wusste nur zu gut um den Unterschied zwischen Vernunftheirat und dem Liebesversprechen, das mit der Ehe verbunden war. Die Beziehung zwischen Alfons und der jungen Rahel ist auch eine der verhängnisvollen Ehebruch- und Liebesgeschichten dieser Zeit, die mit dem Tod der schließlich unglücklichen Frau enden: Anna Karenina und Madame Bovary zählen wohl zu den bekanntesten.

Aber von Anfang an beleuchtete die Geschichte von der schönen Jüdin, deren Reizen ein kastilischer König eine Zeit lang erlegen war, das Verhältnis zwischen Juden und Christen, zunächst im 13. Jahrhundert, der Zeit erbitterter Kriege zwischen Muslimen und Christen nicht nur auf der iberischen Halbinsel, bei Grillparzer selbstverständlich auch seiner eigenen Zeit, der beginnenden Emanzipation der Juden.

Die Liebe zwischen dem verheirateten König, von dem vor allem kriegerisches Engagement gegen die Ungläubigen erwartet wird, und Rahel, Tochter eines reichen Händlers, scheitert an deren Herkunft. Der König, von der Kälte seiner Ehefrau abgestoßen und fasziniert von dem mädchenhaften Charme und der ganz speziellen Erotik, die Rahel ausstrahlt, weiß von Beginn an, dass der Skandal dieser Beziehung nicht darin besteht, dass der König eine Geliebte hat, sondern die Geliebte eine Jüdin ist. Und so gesteht er gegenüber seinem Begleiter namens Garceran, was im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts sicher nicht selten geäußert wurde (2. Aufzug):

Ich selber lieb’ es nicht, dies Volk, doch weiß ich,
Was sie verunziert, es ist unser Werk;
Wir lähmen sie und grollen, wenn sie hinken.
Zudem ist etwas Großes, Garceran,
In diesem Stamm von unstet flücht’gen Hirten:
Wir andern sind von heut, sie aber reichen
Bis an der Schöpfung Wiege […]

Und er fährt mit einer Erinnerung an die bei Adam und Eva beginnende Geschichte fort, wobei er schließlich auf das die christlichen Aversionen gegen die Juden schürende Motiv des Christusmordes zu sprechen kommt:

Von Ahasverus, der den Herrscherstab
Ausstreckte über Esther, die, sein Weib,
Und selber Jüdin, Schutzgott war den Ihren,
So Christ als Muselmann führt seinen Stammbaum
Hinauf zu diesem Volk als ält’stem, erstem,
So daß sie uns bezweifeln, wir nicht sie.
Und hat es Esau-gleich, sein Recht verscherzt,
Wir kreuz’gen täglich zehenmal den Herrn
Durch unsre Sünden, unsre Missetaten,
Und jene haben’s einmal nur getan.

Einen glücklichen Schluss kann es trotz dieser einsichtsvollen Worte nicht geben: Auf Befehl der Königin töten – oder lassen töten – die Großen des Adels das schöne Mädchen. Der König, entsetzt und hilflos, fügt sich, er verspricht, fortan ein „guter König“ zu sein und eifrig die Muslime zu bekämpfen. Rahel, die Anmut, Wärme und Liebe in sein Leben gebracht hatte, muss vergessen werden.

1951 brachte die spanische Post diese Briefmarke mit dem Konterfei des Dichters Lope de Vega heraus

Ungleich stärker als Grillparzer hatte den Gegensatz von Judentum und Christentum der spanische Dichter ausgestaltet, auf dessen Drama er sich stützte: Bei Lope de Vega (1562 bis 1635) erschien Rahel als berechnende Verführerin, die es arrangiert, dass der König ihr beim Bade zuschaut. Nachdem die Venusfalle zugeschnappt ist, nimmt sie sogleich das Heft in die Hand. Eine typische Furcht der Männer, weiblicher Verführungskunst zu unterliegen, wird maßlos gesteigert durch die Angst vor einer jüdischen Herrschaft, die mit dieser Beziehung in greifbare Nähe zu geraten droht. Die Niederlagen der christlichen Heere, so heißt es, seien dieser schändlichen Liebe geschuldet, das Königtum gefährdet, der göttliche Auftrag, die Ungläubigen zu besiegen, vergessen. Folgerichtig wird nicht nur Rahel, sondern gleich ihre gesamte jüdische Umgebung niedergemetzelt.

Unter den literarischen Bearbeitungen des Stoffes verdient der 1955 erschienene Roman von Lion Feuchtwanger (1884 bis 1958) Beachtung. Feuchtwanger, in München in einer konservativen jüdischen Familie aufgewachsen, hatte sich in zahlreichen Werken mit dem Verhältnis befasst, das zwischen Juden und ihrer Umwelt bestand, die ihnen nicht eben wohlgesonnen war, er hatte schließlich auch den bedingungslosen Hass der Nationalsozialisten auf alles Jüdische erlebt und in den USA Zuflucht gefunden.

Lion Feuchtwanger, Briefmarke, DDR 1974

Ohne Frage spielen Erfahrung und Wissen um das, was sich kurz zuvor in dem Land ereignet hatte, in dem er seine exzellente Bildung erhalten und wo er seine literarischen Erfolge gefeiert hatte, eine Rolle, als er an seiner „Jüdin von Toledo“ arbeitete. Feuchtwanger war ein versierter Autor historischer Romane, der es verstand, durch reichlich ausgewertetes Quellenmaterial den Lesern die jeweiligen Zeitumstände vor Augen zu führen, aber die beschriebene Situation auch als Spiegel unserer Zeit einzusetzen.

Im Toledo des ausgehenden 12. Jahrhunderts, dem stolzen, oft vermessen stolzen König Alfons, einem in das Ideal des christlichen Ritters vernarrten Erzbischof, dem steinreichen, umsichtigen, etwas eitlen Jehuda Ibn Ezra und seiner Tochter Rahel, den skeptischen Gelehrten auf christlicher wie muslimischer Seite, begegnet man Figuren, die ebenso dem „Mittelalter“ wie der Gegenwart angehören.

Rahel, Doña Raquel, ist eine ihrer geistigen Brillanz und ihrer hinreißenden Erscheinung bewusste junge Frau, die gleichsam zu einer neuen Esther werden möchte: Mehr noch als ihr Vater, der seinen Einfluss auf die Politik nur durch vorsichtiges und oft demütigendes Taktieren zu wahren versteht, kann sie die gezogenen Grenzen zwischen Juden und Kastiliern übersteigen, ja sie überfliegen. Das Tor zur Anerkennung der Juden scheint geöffnet. Mag es auch finstere Gestalten geben, denen die Friedenspolitik, die ihr Vater Jehuda nach Kräften fördert und Kastilien reich macht, ebenso ein Dorn im Auge ist wie ihre aufrichtige Liebe zu dem christlichen König – alles spricht dafür, dass wirtschaftliche Vernunft und Liebe siegen werden.

Zumal auch der König, ungeachtet seines tollkühnen und ritterstolzen Wesens, Rahel liebt. Aber weit gefehlt! In einem übermütig vom Zaun gebrochenen Krieg gegen den Kalifen Jakúb Almansúr erfährt das kastilische Heer im Jahre 1195 in der Schlacht von Alarcos eine verheerende Niederlage. Schuld ist – natürlich – nicht die blinde Vermessenheit der christlichen Ritter, schuld sind die Juden, die freilich tapfer im christlichen Heer gekämpft haben und in großer Zahl gefallen sind, schuld sind die, die vor dem Krieg gewarnt haben: Jehuda Ibn Ezra und seine Tochter Rahel, nun als Zauberin verschrien. Wer den Feind im Feld nicht schlagen kann, dessen Kräfte reichen, um einen alten Mann und eine junge Frau zu erschlagen, Kunstwerke zu zerstören, Bücher zu verbrennen.

Die Jüdin von Toledo – Cover der Ausgabe des Aufbau-Verlages Berlin von 2002

Feuchtwanger war zu intelligent, um im mittelalterlichen Kastilien ein Gegenstück zum mörderischen Regime der Nationalsozialisten zu zeichnen; es ist nicht einmal deren Vorschein. Insgesamt fällt erstaunlich mildes Licht auf die am Ende zerknirschte Ritterschaft und den von der Niederlage und dem Mord an seiner Geliebten gedemütigten König. Die intelligente und schöne Rahel wird nicht vergessen, sie ist es, die durch ihren Tod den König läutert; den einst hitzköpfigen Alfons VIII. erinnert die Nachwelt mit dem Beinamen „der Edle“.

Rahel ist für Feuchtwanger nicht die Figur, die eine Esther sein möchte, aber daran scheitert, die aufsteigt, fällt und stirbt, nicht eine mädchenhafte Verführerin, sondern eine junge Frau, die sich ihrer selbst bewusst ist. Seine Rahel ist, wie er es im Nachwort zur Erstausgabe angedeutet hat, eine wahre, keine bloß märchenhafte Esther, die Mahnerin zum Frieden, ja mehr als eine Mahnerin: die Verkörperung dessen, was in einer Kultur als erstrebenswert gilt, so oft es auch niedergetreten wird. Wir sagen Schönheit und Klugheit dazu und meinen damit das, worin das Gute anschaulich wird.

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Der Autor ist Wissenschaftshistoriker und Theologe. Nach dem Studium der evangelischen Theologie, Philosophie, klassischen Philologie und der Geschichte der exakten Wissenschaften in Berlin und Hamburg promovierte Dr. Michael Weichenhan 2002 über die „Supernova des Jahres 1572 und die Überwindung der aristotelischen Kosmologie“. In den Jahren danach arbeitete er an den Universitäten in Berlin, Frankfurt / Main und Darmstadt. Seit 2019 ist Weichenhan in Emden als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Johannes a Lasco Bibliothek mit dem Editionsprojekt „Zwischen Theologie, frühmoderner Naturwissenschaft und politischer Korrespondenz: Die sozinianischen Briefwechsel“ betraut.